Wendehälse im Gestell

KosmosTitel

Was treibt einzelne Menschen – und wohin treiben Staat und Gesellschaft?

„Die Erschaffung des An-Gestellten“ ist ein besonders wichtiges Kapitel in „Der menschliche Kosmos“. Es handelt u.a. davon, weshalb Bürokratien ungehemmt wuchern, Unternehmen von Managern, Staaten von Regierungen in schwere Krisen gesteuert werden –  und am Ende fast nie Verantwortliche dingfest zu machen sind.
Angestellter ist ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsaufgaben überwiegend aus geistiger Arbeit bestehen.“, sagt die Wikipedia. Die Unterschiede zu Arbeitern verschwinden indessen mit fortschreitender Automatisierung, die zu Beamten bestehen in deren besonderer Bindung an den Staat, weniger in ihren Funktionen innerhalb der Organisation. Ich verwende den Begriff hier für „abhängig Beschäftigte“ in allgemeinerem Sinn.

Angestellt zu sein ist in den entwickelten Industrieländern fast zur einzig möglichen Lebensform geworden. Es gilt als Katastrophe, seine Anstellung zu verlieren und „arbeitslos“ zu werden. Das ist eine verräterische Ausdrucksweise, die „Arbeit“ mit „Anstellung“ gleichsetzt und das Leben außerhalb der Anstellung abwertet − als ob man nicht auch als Selbständiger oder einfach als Hausfrau und Mutter vollwertig arbeiten könnte.
Das System, Einkommen als Angestellter zu erwerben – nennen wir es mit Martin Heidegger einfach „das Gestell“ – sichert großen Massen von Menschen die Existenz, es strukturiert fast allgegenwärtig die Arbeitswelt und fast jede Arbeitsorganisation setzt auf dem Gestell auf. Wer an-Gestell-t ist, muss Unwetter und Missernten kaum noch fürchten, auch nicht, dass er als selbständiger Handwerker mit seiner Werkstatt wegen neuer Produktionsverfahren Pleite geht. Er verfügt über relativ sicheres Einkommen, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung (die eigentlich eine Versicherung gegen das Nicht-angestellt-Sein ist), kurz: er hat mehr gegen all die vielen Existenzängste und für die Sicherheit getan als irgendeiner der in Jahrtausenden verblichenen Vorfahren.
Am Ende bleibt eigentlich nur eine – neue – Angst: aus dem Gestell herauszufallen.
So wie der Günstling des Königs dessen Zorn muss der Angestellte fürchten, gegen die Maßgaben seiner Firma, gegen die ihm zugewiesenen Rolle in der Hierarchie – im Gestell – zu verstoßen. Das Schicksal eines einzelnen Unternehmens braucht ihm dabei nur so lange wichtig zu sein, als ihm seine Dienste hinreichend vergolten werden und nicht ein komfortablerer Platz in einem anderen Unternehmen, einer Behörde oder sonst einer Organisation winkt.
Der schnelle Zusammenbruch der DDR 1989 und die unaufhaltsame deutsche Vereinigung unter den „Wir sind ein Volk“ – Rufen der Bevölkerung des hinfälligen „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ haben weniger mit nationaler Sehnsucht – umso mehr mit der Tatsache zu tun, dass die DDR ein fast perfektes Gestell war. Spätestens 1972 waren im Osten Deutschlands die Unternehmer als soziale Schicht eliminiert. Freiberufler waren fast bedeutungslos. Im „real existierenden Sozialismus“ (zu diesem Begriff wird später noch einiges zu sagen sein) gab es praktisch nur Angestellte. Deren Loyalität gegenüber dem Großkonzern DDR mit seinen vielen Tochterunternehmen – den Kombinaten der Industrie, den Produktionsgenossenschaften in Handwerk und Landwirtschaft, den Heerscharen von Behördenangestellten – war durch nichts leichter und zugleich nachhaltiger zu erschüttern, als durch die Aussicht auf viel bessere Anstellungsverhältnisse in den Unternehmen und Organisationen des Westens. Deren marktwirtschaftlicher Erfolg erschien via Werbefernsehen und Intershop zum Greifen nah und zugleich unerreichbar fern.
Tatsächlich trägt die deutsche Vereinigung Züge der „feindlichen Übernahme“ eines bankrotten Unternehmens durch einen starken Konkurrenten. Besonders deutlich wird das im jahrelangen, von Korruption, Schiebungen, Erpressungen begleiteten Agieren der „Treuhandanstalt“.

NVAWappen

Treueschwüre sind befristet – der Opportunismus nicht

Und nicht zuletzt die „Staatsdiener“ in Polizei, Armee und Verwaltung verhielten sich in der Mehrheit vollkommen anpassungsbereit gegenüber einer Gesellschaft, die ihrer alten Unternehmensführung als schlimmster Feind galt, als „Klassenfeind“ – in der quasireligiösen Ideologie der totalitären Parteien also als der Teufel. Das schmälerte selbst bei hohen Offizieren, die bis zum Herbst 1989 glaubwürdig ihre Bereitschaft zum Atomschlag gegen den Klassenfeind bekundeten, nicht die selbstgewisse Bereitschaft, sich bei Militär, Polizei oder Geheimdienst der fusionierten Deutschland AG – eben des Teufels – anstellen zu lassen.
Solchen Figuren – stramm linientreu, bereit, Nachbarn und Kollegen anzuschwärzen, auszubooten, bei Partei und Stasi zu denunzieren, wenn es der eigenen Karriere nützte, nach der politischen „Wende“ servil gegenüber der ehemaligen „Konkurrenz“ – verlieh der Volksmund den Namen „Wendehals“, was ungerecht gegenüber dem netten Vogel ist. Der Erfolg gab vielen Recht.

Vom Glück, nicht beachtet zu werden

Pieter Brueghel "Superbia" - der Hochmut

Pieter Brueghel „Superbia“ – der Hochmut, eine der Todsünden, kommt bekanntlich vor dem Fall

Der mechanische Wahn, der alles quantifiziert und sich die Welt zurecht-rechnet, zurecht-modelliert mittels digital inflationierter Statistik, ebnet den Unterschied, also die Qualität, im Dienste von Geldmaschinen oder politschen Superdominanzen – schlimmstenfalls im totalitären Staat – ein. Die Superdominanzen in seiner Gefolgschaft schillern inzwischen in allen ideologischen Tarnfarben – alle erweisen sich als zwiegeschlechtliche Frucht von Kapital und Religion oder Machtgier und Bigotterie oder … denk er sich jede moderne Verbindung jeder Sorte religiösen Irrsinns mit Habgier, Herrschsucht, Rachegelüsten, Schadenfreude etc. hinzu. Dem nicht als – mehr oder weniger williger – Gehherda ausgeliefert zu sein, ist höchstes Glück und köstlicher Tanz auf dem Ereignishorizont.

So weit, so gut. Mir hat es nichts ausgemacht, dass meine Bücher und Weblogs wenig beachtet wurden. Für mich waren sie der Garten, den ich zum Ende meines Lebens hin mit mir gefälligen Blüten bepflanzen wollte, öffentlich zugänglich, allfälligen Besuchern zum Vergnügen. Kritiker mit guten Ideen, wie manches zu beschneiden, zu erneuern wäre, sind darin willkommen. Der Wettkampf von Konzernen und Politbürokraten um die Weltherrschaft wollte es, dass die EU-Administration diese Art individueller Gärtnerei Regeln unterwerfen zu müssen meint, die Aufmerksamkeits-Monster wie Google, Microsoft, Amazon, Facebook etc. im Gebrauch von Nutzerdaten zügelt.

Es war zu lesen, dass Google 500 Mannjahre aufwenden musste, um den Anforderungen der DSGVO nachzukommen. Ein Blick auf die Dienste, die sich unterm Dach dieses Giganten sammeln, die dort auf komplexe Weise vernetzt sind, die einer wie ich gern gratis schon aus Neugier nutzt, lässt einen ahnen, welches Ausmaß solche Regelungswut erreicht. Und ich habe keine Ahnung, inwiefern ich womöglich durch ein dort gehostetes Weblog gegen irgendeine der mir kaum verständlichen Auflagen verstoße, was rührigen Fachleuten dank von schlauen Algorithmen geleisteter digitaler Nachforschungen gestattet, mich kostenpflichtig abzumahnen.

Vorsorglich habe ich also meine Weblogs bei blogger.com entöffentlicht – leider auch „kosmosmensch.blogspot. com“, wo ich gratis Texte und deren Überarbeitung zu meinem Buch „Der menschliche Kosmos“ zehn Jahre lang zugänglich machte.

An dieser Stelle sei ausdrücklich der Anwaltskanzlei Dr. Thomas Schwenke gedankt, die Bloggern wie mir einen Generator für die DSGVO-konforme Datenschutzerklärung online an die Hand gab: Bei WordPress.com gehostete Webauftritte können hoffentlich auf diese Weise weiterhin Teil des demokratischen Meinungsspektrums bleiben, ohne denunziert und von Profiteuren des Abmahngeschäfts zum Aufgeben gezwungen zu werden. In derlei juristischen Konstellationen bleibt einer freilich – wie auf hoher See – des Geschickes Mächten ausgeliefert. Sei’s drum: Der Schiffbruch ist seit je Lebensrisiko.

Lesen, Schreiben: Elixiere der Freiheit

Atemlos habe ich über 500 Seiten aufgesogen, wie im Rausch. Darf ein Rezensent das? Vielleicht bin ich gar keiner. Nicht, wenn für das Besprechen eines Buches eine „Objektivität“ verlangt wird, die akademische Gelehrsamkeit zur Voraussetzung hat. Noch weniger, wenn politische, moralische, religiöse Neutralität – wie auch immer sie definiert sei – beim Lesen gefordert wäre. Dem Autor und seinen Texten gegenüber bin ich voreingenommen. Ich habe „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ ebenso verschlungen wie „Für ein Lied und hundert Lieder“ , und „Die Wiedergeburt der Ameisen“; 2011 entstand mein Radiofeature „Für China aus dem Exil“, als Liao Yiwu seiner feindseligen Heimat China entkam. Aus der öffentlich-rechtlichen Mediathek ist es verschwunden, die Redakteurin fand seinerzeit schon Liaos Texte narzisstisch und unappetitlich, war dann vom Live-Gesang, von der Intensität des Gedichts „Massaker“ über den 4. Juni 1989 auf dem Tian’anmen, vom Alltag der Folter im chinesischen Gefängnis so perhorresziert, dass sie  mich gewähren ließ.

Was mir im Interview mit Liao Yiwu auffiel: Der Kontrast zwischen seinem zurückhaltenden und bescheidenen Auftreten und der ungeheuren Anmaßung seines Schreibens:  Er fordert die Politbürokratie Chinas heraus, die nicht nur über ein Milliardenvolk gebietet, sondern auch das Netzwerk globaler Diplomatie fast nach Belieben steuern kann. Die Ameise auf dem Rücken des Elefanten fällt mir ein, und das Heer der Ameisen, die „Würg ihn! Würg ihn!“ rufen. Das Heer sind wir: Autoren aus aller Herren Länder, ältesten und modernsten, technisch hochgerüsteten Despoten ausgeliefert, ein Heer, das Namen aus Jahrtausenden versammelt. Sie haben fast alle Schlachten verloren, noch die bedeutendsten, mutigsten mussten bisweilen zu Kreuze kriechen. Das Bild der zähen Insekten – in der Masse kaum unterscheidbar, reproduzieren sie sich in verborgenen Labyrinthen, kommen aber überall hin – dieses Bild erscheint bei Liao Yiwu öfter. Seine Ameisen haben Gesichter.

Sein neuestes Buch nimmt den Leser mit in die Labyrinthe, auf eine atemlos mäandernde Reise zwischen Peking und Chinas südwestlichen Provinzen Sichuan und Yunnan unter beständigem Verfolgungsdruck der Sicherheitsbehörden. Liao Yiwu schweift dabei immer wieder in die Tiefen der chinesischen klassischen Literatur- und Religionsgeschichte ab, sucht nach Vergleichen zu Fluchtschicksalen von Philosophen – etwa des großen Kong Fuzi – trifft auf Gefährten des Widerstandes. Mit manchen hat er den Folterknast geteilt. Manche haben sich den Zwängen und Verlockungen der Politbürokraten und ihrer „sozialistischen Marktwirtschaft“ ergeben, in der alles, auch Religionen und kulturelle Traditionen von Minderheiten, käuflich und verkäuflich ist. Die meisten überleben in Not und unter abenteuerlichen Umständen, sie saufen, fressen, spielen Versteck mit Spitzeln und Polizei – um den Preis des Lebens. Es ist eine lange Reihe von Namen, prägnanten Charakteren, erschütternden Schicksalen. Auch das von Lao Yiwus Familie gehört dazu. Seine Mutter hilft, obwohl sie die Repressionen mit erdulden muss, dem Sorgenkind immer wieder ins Gewissen redet. Es helfen schließlich viele aus dem Ausland, die seine Bücher schätzen und sie weltweit verbreiten wollen. Zwischen Hoffen und Verzweifeln erleben wir den Weg des Autors in die Freiheit, er balanciert zwischen Abgründen, und obwohl der gute Ausgang bekannt ist, bleibt das spannend bis zum letzten, erlösenden Augenblick im Sommer 2011.

Ja: Auch in dieser Fluchtgeschichte wird es oft unappetitlich, und der Vorwurf narzisstischer Selbstüberhöhung dürfte von jenen ertönen, die harmonisches Dazugehören vorziehen, radikal agierende Schmutzaufwirbler gern am Rand des Pathologischen verorten. Davon wird sich Liao Yiwu kaum beeindrucken lassen, und das ist eine Hoffnung für die Ameisen im Untergrund der „harmonischen Gesellschaft“, wie sie die KP Chinas verkündet. Der Schriftsteller ruht sich in Deutschland ebensowenig aus wie andere Exilanten. 2014 kam seine jüngste Tochter hier zur Welt, und es sieht danach aus, dass sie sein Lesen und Schreiben für die Freiheit weiter anspornt.

Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann haben bewundernswert übersetzt, sie erarbeiteten schon die deutsche Fassung von „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“. Ihnen sei ebenso Respekt gezollt, wie dem langjährigen Lektor Peter Sillem – seit 2017 ist er Galerist – und dem S. Fischer Verlag, der Liao Yiwu jederzeit den Rücken frei hielt.

Liao Yiwu „Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass – Meine lange Flucht aus China“

S. Fischer Verlag 2018, 528 Seiten, 26,80€

Politbürokraten, Meutenmut und Populismus

Porträtfoto von Immo Sennewald 1983

1983 in Ostberlin: Der Autor kurz vorm Berufsverbot

Was Vera Lengsfeld, Monika Maron, Henryk M. Broder, Uwe Tellkamp und anderen Unterzeichnern der „Erklärung 2018“ widerfährt, erinnert deutlich an die Spaltung der Kulturlandschaft in der DDR nach der Ausweisung Wolf Biermanns durch das SED-Regime. Die parteitreuen Medien entfesselten eine Hetzkampagne gegen alle, die sich dem Protest zugunsten Biermanns anschlossen. Zu besichtigen war der Meutenmut besinnungsloser Mitläufer ebenso wie die Infamie von „Kunst- und Kulturschaffenden“ die aus der Hetzkampagne Vorteile für ihre Karriere gewannen. Die Ausreisewelle prominenter Autoren wie Günter Kunert, Jurek Becker, Hans-Joachim Schädlich, von Stars wie Manfred Krug und Armin Müller-Stahl, von Musikern, Malern, Regisseuren ebbte bis zum Zusammenbruch des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ nicht ab. Sie war Signal und Triebkraft für das Scheitern des „real existierenden Sozialismus. Die Politbürokratie West scheint inzwischen denselben Weg gehen zu wollen.

Brecht hat einmal das Problem von Leuten beschrieben, die auf absterbenden Ästen sitzen: Sie können nichts anderes als Sägen erfinden. Abgesehen davon, dass die DDR schon 1977 wirtschaftlich und moralisch dem Bankrott entgegentrudelte: Ihre politische Führung – das „Politbüro des ZK der SED mit dem Generalsekretär Genossen Erich Honecker an der Spitze“ blendete die Realität mit Hilfe der linientreuen Presse und des Staatsrundfunks sowie zahlloser „Massenorganisationen“ fast vollständig aus. Ob „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ), „Freier Deutscher Gewerkschaftsbund“ (FDGB), „Demokratischer Frauenbund Deutschlands“ (DFD), „Kulturbund“, „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ (DSF), in deren mindestens einer fast jeder Erwachsene Zwangsmitglied wurde: Sie alle bekräftigten in normiertem SED-Jargon ergebenst, dass Biermann verdientermaßen ausgewiesen worden sei. Wochenlang füllten parteifromme Journalisten die Zeitungsspalten, die Kanäle des DDR-Fernsehens und Rundfunks mit solchen Bekenntnissen. Wer sich dem zu verschließen suchte, gar eine abweichende Meinung äußerte, kam am Arbeitsplatz, in Schulen oder Hochschulen unter Druck. Nur mit Glück entzogen sich manche – im „Raketenschirm“ habe ich eine solche Szene festgehalten.

In Kneipen, Cafés, Zugabteilen, Kleingärten, Familien und unter Freunden konnte jeder, dem die Informationen über den äußerst zahmen, fast unterwürfigen Protest der „Dissidenten“ einigermaßen vollständig vorlagen, sich ein eigenes Bild vom Geschehen machen. Es war keineswegs „die Stimme des Volkes“, die täglich landauf, landab über die Zeitungen der SED, der Blockparteien, der Massenorganisationen guthieß, was Honeckers Politbürokraten anrichteten. Der Riss zwischen der Wahrnehmung von Herrschenden und Beherrschten wurde immer tiefer. Natürlich schrieben das SED und Stasi sogleich der „ideologischen Diversion“ zu, die von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten jenseits des „Antifaschistischen Schutzwalls“ betrieben werde. Es sollte sich bald zeigen, dass im Gegenteil die Kluft umso tiefer wurde, je mehr die Apparatschiks wirtschaftliche, politische und moralische Konflikte tabuisierten. Wer sie beschrieb, zur Diskussion und zu Reformen aufforderte, wurde schnell zum „feindlich-negativen Subjekt“, verdächtig der „politischen Untergrundtätigkeit“ (Stasi-Kürzel PUT), und riskierte die berufliche Existenz, gar die Inhaftierung.

Es ist bizarr, wenn heute ausgerechnet ARD und ZDF – seinerzeit einigermaßen glaubwürdige Quelle fürs zunehmend des Sozialismus überdrüssige Staatsvolk der DDR – einer selbsternannten „Antifa“ helfen, Schutzwälle gegen den „Populismus“ zu errichten – also gegen kritische Stimmen, die im Staatsvolk verbreitete, höchst brisante Fragen stellen. Die Kontrollstellen, die Autoren und Interviewpartner dort passieren müssen, sondern erbarmungslos alles aus, was „rechts“ ist. Wer Glück hat, geht als „umstritten“ durch, wer Pech hat, wird mit dem Stempel „Nazi“ versehen und ausgegrenzt. Der antipopulistische Schutzwall verweigert ohne Ansehen des Ranges auch ausländischen Wissenschaftlern, Künstlern – Politikern sowieso – den Zugang zum Reich der einzig reputierlichen Meinung, wenn sie einmal den Stempel „Rechtspopulist“ im Pass haben. Als hätten nicht dieselben Anstalten über Jahrzehnte – verstärkt durch das Aufkommen privater Sender und des Internets – mittels einer alle Programme dominierenden Quotenmechanik einem Populismus gehuldigt, der von „Medienforschern“ unter dem Schlagwort „Publikumsnähe“ durchgesetzt wurde. Gesendet wird, was gefällt, nicht was Fachjournalisten für mitteilungswürdig im Sinne des Grundgesetzes halten. So sehen die Programme aus. „Boulevardisierung“ und „Infantilisierung“ prägen die Vorabend- und Abendprogramme. Für Anspruchsvolleres bleiben Nachtstunden und Spartenkanäle. Zugleich wuchs bei der Anstaltsbürokratie die einigermaßen verwegene Überzeugung, im alleinigen Besitz des Wissens darüber zu sein, was „die Menschen da draußen“ verstehen, und wie man ihr Verständnis von der Welt – bei gleichzeitiger Versorgung mit Bundesliga, jeder Art sportlicher Mega-Events, Kriminalserien und -filmen, volkstümelnden und Talkshows – in Bahnen lenkt, die der politischen Stabilität dienen. Es ist ziemlich genau das Konzept, dem auch der DDR-Staatsfunk folgte. Allfälligen Ärger über das Agieren der Mächtigen durfte auch dort das Kabarett auffangen – redaktionell sorgsam betreut, versteht sich. Rechte Kabarettisten wollen „unsere Menschen“ nicht.

Gleichwohl schafften die Politbürokraten Ost es nie, den Zufluss unerwünschter Informationen über den erbärmlichen Zustand des Staatswesens gänzlich zu unterbinden. Das werden nicht einmal Putin und die Chinesischen Kommunisten schaffen. Jede Zensur, jedes NetzDG erschafft beim Volk, dem großen Lümmel, eine unstillbare Gier nach neuen, unkontrollierbaren Kanälen. Ja, es scheut sich nicht, „Fake News“ und „Hate Speech“ zu verbreiten, schon um die Mächtigen zu ärgern. Man könnte das als Folge gelungener Infantilisierung sehen. Um das Spiel offen zu halten, brechen Unterlegene (Kinder zumal) erfahrungsgemäß umso häufiger und drastischer die Regeln, je weniger sie noch zu verlieren haben. Daran lassen sie sich durch Zurufe wie „Loser“, „Pack“, „Abgehängte“ ebenso erfahrungsgemäß nicht hindern.

Politbürokraten in ihrer auf maximale Sicherheit programmierten, statistisch untermauerten Fixierung aufs Ziel des Machterhalts um jeden Preis (sie müssen ja nicht zahlen) verstehen das nicht. Gewohnt, Fehler möglichst niemals zuzugeben, bemerken sie am Ende nicht einmal den Übergang in den Verfolgungswahn. Sie können nur neue Stempel, Redeverbote und Schutzwälle erfinden, und sie rekrutieren und armieren fortwährend neue Hilfstruppen, gern aus dem Medien- und Hochschulprekariat, für den ideologischen Endsieg. Dank enger personeller Netzwerke insbesondere zu den Anstalten wachsen die Schutzwälle. Die ideologischen sind oft haltbarer als die aus Beton: Was der SED die Stasi und an der Innerdeutschen Grenze die SM-70 war, ist heutigen Propagandakräften das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Facebook, Twitter und andere „Soziale Netzwerke“ sollen dafür sorgen, dass sich digitale Grenzverletzer selbst liquidieren. Kein Bürokrat hat hier den Finger am Abzug, große Konzerne organisieren die Verantwortungslosigkeit für Sperren, gelöschte Profile und erstickte Meinungsäußerungen. Wenn diese Waffen gelegentlich nach hinten los gehen, trifft das nur als Kollateralschäden abrechenbare Hilfskräfte: Übereifrige Aktivisten der eigentlich guten Sache.

Es geht voran. Wer riskiert schon seine berufliche Existenz, seine Reputation als Autorin oder Kameramann, seine Reichweite als „Freier“, wenn er auf die ideologischen Grenzbefestigungen trifft, die das Scheitern von Politbürokraten und ihrer medialen Gefolgschaft etwa in der Flüchtlings-, Energie- oder Europapolitik ummauern?

Aber „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ erwies sich schon für die Politbürokratie Ost als Strategie zum Absturz. Gerade im Reich der Ideen sind Vorstellungskraft und Vermehrung der „Grenzverletzer“ enorm. Das beginnt schon da, wo die Bezeichnung „Experte“ volkstümlich Schwätzer bedeutet, und „umstritten“ mutig. Ja, die politischen Witze aus dem Volksmund sind auch in „Sozialen Medien“ nicht selten unflätig. Gerade deshalb lohnt es sich, Peter Rühmkorfs Buch „Über das Volksvermögen“ nach fast 50 Jahren wieder zu lesen – eine brillante Verteidigungsschrift für das Recht auf freie Meinungsäußerung, wie es das Grundgesetz bestimmt.

Kadavergeruch

Tünche

„Da ist Tünche nötig, sehr viel Tünche nötig!“

Als 1974 das Institut für Schauspielregie in Berlin gegründet wurde, sahen es viele Theaterleute als Versuch, linientreuen Nachwuchs auf die Bühnen der DDR zu verteilen, noch mehr Kontrolle staatlicher Stellen über die Kultur zu erlangen.

Gustav Horbel aber, Hauptfigur des Romans, war einfach nur euphorisch, als er 1975 zu den ersten Immatrikulierten im Haus des einst von Wolf Biermann gegründeten b.a.t. gehörte.

Ein Auszug aus dem „Raketenschirm“:

Dann kam der 13. November 1976, Wolf Biermann sang in Köln, wurde am 16. aus der DDR ausgebürgert, tags darauf veröffentlichten Prominente – darunter die Schriftstellerin Christa Wolf und der Filmstar Bernhard Obentraut – einen Protestbrief an die Obrigkeit, der ganz anderes Gewicht hatte als der von ein paar Regiestudenten an ihre Lehrer. In Horbels Augen legte er freilich dieselbe Unterströmung offen: gegen die Bevormundung.

Er sah einen Drehpunkt – so hieß es in der Brecht’schen Dramaturgie – für die Kultur des halben Deutschland: Stimmen im Auftrag der Bevormunder wurden schallverstärkt von uniformierten Medien, Gegenstimmen unterdrückt durch eine Mauer des Schweigens – würden Wahrhaftigkeit und Offenheit dennoch über Erpressung und Lüge siegen?

Horbel wollte diesen Drehpunkt nicht verpassen. Bei einer Versammlung des Instituts war es soweit, der Direktor persönlich stellte Bernhard Obentraut an den Pranger: Der Star sei schon wegen seiner privilegierten Hobbys, seiner arroganten Auftritte unglaubwürdig. Da erhob sich Gustav, verteidigte den abwesenden Freund mit schulmäßiger Dialektik: Umso höher sei zu bewerten, dass Obentraut offen ausgesprochen habe, was viele Menschen im Land nur hinter vorgehaltener Hand sagten, denn damit riskiere er den Verlust eben dieser Privilegien.

Dem DEFA-Chef, einem der Dozenten des Instituts, reichte das, er explodierte: Unerträglich sei, wenn ein Student westlicher Propaganda folge, die sozialistische Demokratie – von offener und ehrlicher Aussprache geprägt – dulde keine Stellungnahme zu Diensten des Klassenfeindes, dessen ideologische Diversion gerade im Fall Biermann einen Höhepunkt gefunden habe.

Gustav saß am unteren Ende des Tisches; manche Studenten betrachteten ihre Fingernägel, ihr Schreibzeug, manche Augen in der Runde waren auf ihn gerichtet: er wurde zum Außenseiter, zum Nestbeschmutzer, er hatte sich verraten, nun nahm man ihn maß. Der Augenblick – just dieser Blick vieler Augen, aller zur Gruppe, zum Clan, zur Korporation gehörigen – war ihm nicht unbekannt; es war der Augen-Blick der ihm von nun an seine Rolle zuwies. Seine Haare sträubten sich, sein Magen schnurrte zusammen, die Hände wurden ihm feucht. Hätte er sich umgeschaut, wäre ihm nicht ein einziges Kopfnicken, nicht eine einzige Miene der Zustimmung, auch nur des Verständnisses begegnet. Er war isoliert.

Dass die Versammlung nicht sogleich zum Tribunal geriet, verdankte er der Intervention eines neu immatrikulierten Studenten. Man müsse wohl, meinte jener, die ökonomischen so wie die politischen und ideologischen Vorbedingungen des Biermannschen Eklats in den Vorlesungen des Marxismus-Leninismus, auch in der FDJ-Versammlung gründlich erörtern, damit solche Fehleinschätzungen wie die Gustavs – dabei blickte er ihn mit einer Mischung aus gönnerhafter Verachtung und Mitleid an – durch vernünftige, auf dem Boden der Tatsachen gründende Fakten korrigiert würden. Das entkrampfte die Situation; man verzichtete mit Rücksicht auf die Tochter von Christa Wolf darauf, die Studenten jene Erklärung unterschreiben zu lassen, in der die Institutsleitung ihr volles Einverständnis mit den Maßnahmen von Partei und Regierung bekundete. Gegenstimmen: keine.

Die Runde löste sich rasch auf, nur einer von Gustavs Kommilitonen legte ihm den Arm um die Schulter und sagte: „Gustav, dass du zu all diesem Durcheinander eine so klare Meinung hast, wundert mich. Ich kann immer noch nicht genau zuordnen, was da seit ein paar Tagen passiert. Möchtest du nicht mal bei einem Bier mit mir über deine Einstellung reden? Vielleicht verstehe ich dich dann besser.“ Er kniff ein Auge zu. „Na, wie wär ’s?“

Das Geschenk des Lebens – mit Gebrauchsanweisung?

Alexis de Tocqueville 1805 – 1859

Egal ob einer an Gott oder an die Unerschöpflichkeit und Allgegenwart des Universums glaubt: Das Leben ist sein Geschenk. Freiheit bedeutet, sich im Gebrauch dieses Geschenks zu üben, das geht nur in Gesellschaft, es geht nicht ohne Konflikte und nur begrenzte Zeit.
Erfreulicherweise hat die Menschheit gelernt, sich über Erfahrungen mit Konflikten auszutauschen – man nennt das Kommunikation. Wie alle Lebensprozesse folgt freilich auch sie Wünschen, Ängsten, unbewussten mehr als bewussten Zielen, sie sind so unterschiedlich wie die Individuen, deren Wahrnehmung sie formen. Ebenso verhält es sich mit der Wahrnehmung all jener sozialen Verbünde, in die der Einzelne hineingeboren wird, in denen er heranwächst und die seiner Freiheit Grenzen setzen. Neben den Konflikten zwischen Individuen wird es folglich ebenso Konflikte zwischen dem Einzelnen und seinem Sozialverbund geben wie zwischen verschiedenen Sozialverbünden. Gewalt und Krieg sind naturwüchsige Strategien, solche Konflikte zu lösen, Gewalt – Macht – Lust ist ein tief verwurzelter Impuls, der sie treibt. Sein Erfolg hat ein enormes Repertoire an Formen und Instrumenten hervorgebracht, sie sind allesamt in Kulturen aufgehoben, mir ist keine einzige bekannt, die als „ausgestorben“ gelten dürfte.
Gewalt schafft Leiden. So unvermeidlich es zum Leben gehört, so unvermeidlich wächst der Wunsch nach dem Ende des Leidens, der Wunsch es doch zu vermeiden.
„Weh spricht vergeh‘, Weh spricht vergeh‘ – doch alle Lust will Ewigkeit“, heißt es in Nietzsches „Zarathustra“ – Gustav Mahler hat diese tiefste Strebung in Musik gefasst. Der Traum vom Paradies, vom ewigen Frieden ist so unzerstörbar wie die großen Kunstwerke, die ihm nachgehen und Gestalt verleihen.
Alles Bemühen, aus dem Traum Realität werden zu lassen, führte indessen zur Hölle auf Erden. Oder – wie Georg Trakl schrieb – „in schwarze Verwesung“. Der ewige Frieden ist nichts anderes als Bewegungslosigkeit. Konflikt- und gewaltfrei ist nur eine Gesellschaft ohne Freiheit, unsterblich nur der Tod. Wer Gebrauchsanweisungen fürs Leben an Aussichten auf Unsterblichkeit (bzw. eine beliebige Verlängerung des Lebens) oder auf ewigen Frieden knüpft, bescheinigt allen, die sich an seine Gebrauchsanweisung nicht zu halten bereit sind, ihre Minderwertigkeit. Er signalisiert, dass es durchaus erhabener Lebenszweck sein kann, sie auszurotten. Er wird, sagt die Erfahrung, Gefolgschaft finden, und deren Impuls zu Gewalt – Macht – Lust freisetzen: Massenhaft werden sie sich als geweihtes Kollektiv erleben, als von individueller Verantwortung fürs Denunzieren, Diffamieren, Anprangern, Abschlachten befreit. Gläubige werden zu Soldaten „für das Gute“, zu Mördern, Vergewaltigern, Plünderern – bis der Krieg sie frisst.

Buchcover zu Peter H. Wilson Der Dreißigjährige Krieg

Entstehen und Dynamik des 30jährigen Krieges sind von bestürzender Aktualität

Was sie über Jahrhunderte im Namen einer Ethnie, Religion oder Nation wurden und werden, steigert sich seit Marx, Engels, Lenin und all ihren schrägen Schülern unter den „Anti“-Transparenten zum Totalitarismus: Die ideologisch aufgeladene Meute gewinnt nicht mehr nur Territorien oder Güter, sondern den „Ewigen Frieden“, die „lichte Zukunft der Menschheit“, den Gipfel des „Humanismus“. Dafür wird das ganze Instrumentarium mobilisiert: Total bis zur Massenvernichtung des modernen Zeitalters, nuklear, chemisch, biologisch.
Vor allen anderen Instrumenten mobilisiert diese „Mission Imbecile“ zunächst die total einseitige Kommunikation, die Gut und Böse unterscheidet, entsprechende Feindbilder konstruiert und ausmalt, den Gegner aufs äußerste bepöbelt, ihn zum Abschaum ausruft, vernichten will, so er sich nicht unterwirft.
Diese Art Kommunikation schmeichelt dem Selbstgefühl der Gläubigen. Jede einzelne Gegenstimme – sei sie noch so ehrwürdig – ersticken zu können, nährt Allmachtsphantasien bei Spitzeln und Blockwarten. Kommunisten, Nationalsozialisten und dem „real existierender Sozialismus“ verdanken wir einschüchternde Gebrauchsanweisungen zum Leben im „Ewigen Frieden“. Interessanterweise gab es schon zur Entstehungszeit des „Kommunistischen Manifests“ deutliche Hinweise, wie eine Gesellschaft, wenn sie in den Totalitarismus abgleitet, den sozialen Tod des Individuums vorausschickt:
„Der Machthaber sagt hier nicht mehr: ‚Du denkst wie ich, oder du stirbst‘, er sagt: ‚Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten: aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen; denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie sie dir. Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern wirst, so wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen; und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet man auch ihn. Gehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod.'“
Der Text stammt von Alexis de Tocqueville aus seiner Schrift „Über die Demokratie in Amerika“ (1835/1840). Eine genaue Vorstellung vom sozialen Tod hat, wer eine totalitäre Gesellschaft erlebt. Kommunismus, Nationalsozialismus, Islamischer Staat scheuten und scheuen sich nicht, dem sozialen Tod die physische Vernichtung folgen zu lassen.
Wer über Tocquevilles Worte nachdenkt, wird in den derzeit zu beobachtenden Kämpfen um Deutungshoheiten in den global wachsenden Kommunikationsnetzen das Wetterleuchten totalitärer Herrschaft erkennen. Wenn er kann und will, wird er den Wert der Meinungsfreiheit umso höher schätzen. Er wird sich mit aller Kraft gegen das Eiapopeia eines falschen Friedens wehren, der sie ihm nimmt: Um seines begrenzten Lebens und der Nachkommen willen.

Feminismus – wer gewinnt?

Die Venus von Botticelli

Boticellis Venus – wie sexistisch sind Gemälde der Renaissance?

Ein Handlungsstrang des Romans befasst sich mit Silvia, einer in der DDR aufgewachsenen Künstlerin. 20 Jahre nach dem Untergang des SED-Staates sucht sie ein selbständiges Leben: frei und von Zensur unbehelligt. Findet sie Verbündete? Kann sie sich behaupten – oder muss sie sich an Organisationen, Verbände, Sponsoren binden? Welche Rolle werden Männer dabei spielen?

Sieben Jahre sind es, seit der „Raketenschirm“ entstand. „Gender-Mainstreaming“ ist Teil der Politbürokratie. Zeit, über Feminismus und Macht neu nachzudenken.

Die Fotoausstellung ist ein Erfolg, aber das genügt nicht. Es muss viel mehr herauskommen als knapp drei Minuten Interview in einem Magazin von RTL 2 über Schönheitsoperationen im Genitalbereich, es hätten sich die Vertreter aller Medien einfinden sollen, die der bunten Zeitschriften, die vom Boulevard – freilich, viel lieber noch die von „Psychologie heute“, vom „Spiegel“, vom „Stern“; am liebsten wäre sie mit einem „Geo“-Reporter samt Fernsehteam nach Afrika gereist, um eine Reportage über den Kampf gegen die Genitalverstümmelung zu produzieren, ergreifender, beredsamer, bilder- und spannungsreicher als alles, was zum Thema je publiziert worden ist. Stattdessen meldet sich nicht einmal die „Emma“.

Dabei ist sie vollkommen sicher: das Thema „Weibliche Genitalien“ ist ein ganz großes, größer noch ist die Unwissenheit darüber, die der Frauen zumal, denn immer mehr von ihnen rasieren nicht nur die Schamhaare, sondern lassen sich die kleinen Labien von Chirurgen zurechtstutzen, die Vagina verengen, einige, um männlichen Wünschen, die meisten, um der eigenen Vorstellung zu genügen, was sie begehrenswert, was sie in der Welt des Begehrens unwiderstehlich machen kann. Sie haben zahllose Vorbilder. Jeden Tag können sie erfahren, was zählt, wenn die Zahlen an Geburtstagen schmerzhaft vorrücken, was sie tun müssen, dem Verfall des Weiblichen entgegenzuwirken, auch, was es kostet. Zahlen sind Qualen. Aber dank der Medien können sie sich vergewissern , mit dieser Qual nicht allein zu sein, können gar Hilfe finden, ohne sich Sport und anderen Zumutungen unterwerfen zu müssen. Die Sucht, sich selbst zu vervollkommnen, grassiert. Hatten die Medien schon immer alle Märkte vorangetrieben – für jegliche wahnhafte Begierde – so treibt nun das Internet den Markt vervollkommneter Weiblichkeit vor allen anderen: Direkte Links führen zu Pillen, Kuren, Kliniken. Die Schönheitschirurgen, die ihnen zu Dumpingpreisen nacheifernden Quacksalber modellieren fremde, vergolden sich die eigenen Nasen.

Silvia, die rothaarige Leipzigerin Mitte Fünfzig, kinderlos, verwitwet, zweimal geschieden, kann einfach nicht verstehen, wieso angesichts dieser bedrohlichen Tendenz zur Selbstverstümmelung ihre Botschaft von der Schönheit und Perfektion des naturbelassenen weiblichen Genitals im Internet ungehört verhallt, auch beim Fernsehen. Sie hat Zuspruch erfahren von vielen Seiten; eine Nichte breitete auf eigenen Wunsch als photographisches Pendant zu einem schillernden Falter die kleinen Schamlippen wie Schmetterlingsflügel aus. Die Fotos sind allesamt großartig, auch die Texte. Silvia hat fernöstliche Kulturen zu Zeugen berufen, dazu die medizinische Wissenschaft, sie hat fast alles getan, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dass selbst Alice Schwarzer nicht ihre Impulse aufnimmt, schreibt sie deren Neid, dem Alleinvertretungsanspruch weiblicher Interessen zu. Einzig ein popliger TV-Produzent aus Sachsen-Anhalt bietet an, ein Video für ihre Homepage zu produzieren und in Stendal eine Podiumsdiskussion zu verfilmen. Dabei ist nicht einmal Geld zu verdienen, sie hat abgelehnt. Eine der großen Anstalten müsste finanziellen Rückhalt bieten, das Marketing muss der „Mission Vulva“ angemessen sein.

Sie wird weiter recherchieren müssen im Internet, in den Communities, sich profilieren bei facebook, MySpace, XING, linkedin, twitter und wie die Plattformen heißen, die Erfolg versprechen bei der Suche nach den erfolgversprechenden Kontakten, sie wird ein Auge haben müssen auf die Konkurrenz, sie ist nicht die Einzige, die ans Potential des Themas glaubt; Schwestern sind unterwegs, finden Beachtung mit Büchern, werden interviewt, tauchen in Talkshows auf. Letztlich hängt alles an persönlichen Beziehungen. So war es immer, so wird es bleiben, niemand weiß das besser als sie.

Frühling im Januar

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Ich kann mich nicht erinnern, je zuvor an einem 12. Januar Hunderte blühender Krokusse in Baden-Badens Lichtentaler Allee, dieser kilometerlangen Parklandschaft ohnegleichen, gesehen zu haben. Mitte Februar, ja, da reichten bisweilen die Krokusprozessionen von Einheimischen und Gästen von der Innenstadt bis hinaus zum Kloster, dann erfreuten Hunderttausende bunter Kelche die Herzen, die Stimmung von Menschen vieler Nationalitäten erhob sich über Alltagsgrau und politische Zwistigkeiten hinweg hinauf ins Blau, Sonne und Frühling lächelten, noch der letzte Miesepeter lächelte zurück.

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In der Gönneranlage, wo in wärmeren Jahreszeiten zahllose Rosensorten,  Lavendel, Blauraute, Zitronenbäume, blühende Rabatten bezeugen, was die hiesige Stadtgärtnerei an Können, Geschmack und Fleiß alljährlich zu investieren bereit und im Stande ist, sammelt der Graureiher Regenwürmer. Er ist immer gern bereit, sich fotografieren zu lassen, vermutlich hat er mitbekommen, dass Menschen in Baden-Baden gern vor Kameras posieren, er testet seit Jahren, wie nahe sie sich an ihn heran trauen.

IMG_20180112_143436Der letzte Sturm hat ein paar große alte Bäume umgeweht. Unterm Wurzelwerk der 130jährigen Ulme hat Herr Amsel ein Versteck mit Nahrungsreserven gefunden, aus dem er mich skeptisch beäugt. Den Winterlingen ist egal, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggekippt ist: So kriegen sie noch mehr Sonne und blühen einfach: Nächste Woche, sagen die Meteorologen, gibt’s Frost und Schnee, aber vermutlich wissen Frühjahrsblüher dank ihres eigenartigen vegetativen Gedächtnisses, dass solche Intermezzi in Baden-Baden kurz sind. Sie haben sie noch immer überstanden.

Und für diese Art Botschaften bin ich überaus dankbar.

Demokratie ohne Demokraten–war da was?

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Das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ – schon das Wort ist als bürokratisches Monstrum kenntlich – erweist sich als das, wofür Heiko Maas und die Seinen es erfanden: Als Mittel, die Meinungsfreiheit organisiert und automatisiert abzuschaffen. Der Trick: Staatliche Zensur wird an private Unternehmen von kartellartiger Macht ausgelagert, schönes Beispiel politischer Falschmünzerei.

Anhand der von Facebook und Twitter geübten Praxis zeigt sich schon jetzt: Auf lange Sicht erledigte die Politbürokratie gern jede Opposition – anders kämen solche Gesetze nicht zustande, denn es gab von dort vernehmlichen, anhaltenden Protest. Das Schlimme: Die Wahrnehmung eines großen Teils der Bevölkerung ist dank Quotenmechanik und Umfrageverblödung derart auf konforme Mediokratie konditioniert, dass sich für Krisen immer passende Sündenböcke finden, Konflikte als störend, Auseinandersetzungen um Demokratie als Angelegenheit der Parteien betrachtet werden. Nachdem diese und ihre mediale Gefolgschaft die Leute zum Stimmvieh und sich gegenseitig unangreifbar gemacht haben, was ein aberwitziges Wachstum der Bürokratie mit sich brachte, scheinen sie jetzt mit den Mitteln der Digitalisierung den letzten Schritt zur chinesischen Harmonie gehen zu wollen.

Ich lese gerade Kästners „Notabene 45“ – und möchte über die ewige Wiederholung Desselben schier verzweifeln, denn der DDR-Bürger richtete sich mit der nämlichen Indolenz unter der geistigen Hoheit des Politbüros der SED ein, wie seine Eltern bei den Nazis. Die erkennbar zur Katastrophe führende Realitätsferne herrschender Ideologen hinderte sie nicht, jeden Oppositionellen als Quertreiber, Störenfried, gar Verräter zu denunzieren – bis zum bustäblich allerletzten Moment vor dem Knall. Und danach gab es kaum eine Schamfrist, ehe den Dissidenten wieder leidenschaftlich am Zeug geflickt wurde.

Hier wirkt ein Herdenimpuls, dem mit noch so guten Argumenten und historischer Erfahrung nicht beizukommen ist, es gibt eine speziell deutsche Ausprägung, sie hat literarisch, filmisch in all ihren Scheußlichkeiten bebildert, ohne an Wirkung zu verlieren.

Was bleibt? Sich auch künftighin von der Herde fernzuhalten, dem medialen Einverständnis mit Argumenten zu begegnen, Schützengräben zu meiden und der einzig unwiderlegbaren Wahrheit gefasst zu begegnen.

Deuter und Diktatoren

Vierbeiner gut – Zweibeiner schlecht!
 

Wenn Politiker im Kampf um die Deutungshoheit auf dem Weg zur Macht Herdenimpulse nutzen – tut das die Gegenseite, wird sie gern als „populistisch“ geschmäht – leisten immer noch die Methoden der Schweine in Orwells „Farm der Tiere“ gute Dienste. Allerdings zeigt sich, wie bei Orwell nachzulesen, dass die Realität ziemlich hartnäckig widersteht, wenn Ideologen sie schweinemäßig umzulügen versuchen.

Das Wort „Freunde“ erlebte in der DäDäÄrr auf diese Weise einen Bedeutungswandel. Stalinismusverträglich wurde es von der Politbürokratie auf jeden beliebigen Einwohner der Sowjetunion gemünzt. Es gab eine „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, wer nicht berufliche Nachteile in Kauf nehmen wollte, wurde Zwangsmitglied – „freiwillig gezwungen“ nannte das der Volksmund. Da insbesondere die Chefs der KPdSU wenig freundschaftliche Gefühle weckten, drückte „die Freunde“ umgangssprachlich das Gegenteil aus: Misstrauen, Hohn, Spott.

Die meisten Russen haben nicht verdient, in diesem Sinn als „Freunde“ bezeichnet zu werden. Das legt die Frage nahe, ob es nicht als zu verfolgende „hate speech“ einzuordnen ist, überhaupt irgendeine Menschengruppe so zu bezeichnen.

Oder anders gewendet: Darf jemand wie Heiko Maas es als „hate speech“ einordnen, wenn ich ihn als Freund, als hm, äußerst honorigen Volksvertreter oder leuchtenden Verfechter des Grundgesetztes bezeichne? In Kenntnis meiner Denkweise könnte er sich womöglich beleidigt fühlen. Das Problem hat E.T.A. Hoffmann im „Meister Floh“ schon einmal illustriert: der Geheime Rat Knarrpanti sah sich jederzeit imstande, Personen zu kriminalisieren. Habe man einen Delinquenten erst einmal inhaftiert, meinte er, fände sich schon das passende Delikt, ihn auch gerichtsfest beliebig lange hinter Gitter zu bringen. Die böse Satire Hoffmanns auf den seinerzeitigen Berliner Polizeidirektor fiel folgerichtig unter Zensur, der Autor entging selbst strafrechtlicher Verfolgung nur, weil ihn der Alkoholtod dahinraffte.

Ich überlege, ein „Dschungelbuch der Deutungen“ zu schreiben, das die ganze Komplexität solcher tierisch-menschlichen Phänomene zumindest aufscheinen lässt. Aber womöglich wäre das nur ein ebenso hoffnungsloser Versuch wie die Texte von Peter Panther, Theobald Tiger,… alias Kurt Tucholsky, den Erich Kästner einmal als kleinen dicken Berliner beschrieb, der versucht habe, mit seiner Schreibmaschine eine Katastrophe aufzuhalten. Die Umdeutungen haben wieder Konjunktur in der Politbürokratie und ihrer ideologischen und journalistischen Gefolgschaft.

Die Einwohner der DäDäÄrr durften zwar Tucho lesen, der war ja Antifa, aber nicht Orwell. Manchmal frage ich mich, ob der Applaus für die Weisen von damals nicht den heutigen Herden als Ersatz fürs Nachdenken über die Verhältnisse im eigenen Gatter dient. In der Regel befreit sie von ihrem Schicksal nur der Schlachter oder ein Wirbelsturm. Aber in stürmischen Zeiten der Freiheit sind Herdentiere meist ratlos, sie wecken nostalgische Wünsche nach verlorener Stallwärme. Zu besichtigen etwa bei den ihrer Sowjetunion beraubten Freunden.

Was bleibt? Tiefes Misstrauen gegenüber Deutern. Tieferes Misstrauen gegenüber Deutern von Gut und Böse. Tiefstes Misstrauen gegenüber Deutern, die Herdenimpulse in Dienst nehmen wollen, indem sie Propaganda als Heilsversprechen ausgeben.