Kadavergeruch

Tünche

„Da ist Tünche nötig, sehr viel Tünche nötig!“

Als 1974 das Institut für Schauspielregie in Berlin gegründet wurde, sahen es viele Theaterleute als Versuch, linientreuen Nachwuchs auf die Bühnen der DDR zu verteilen, noch mehr Kontrolle staatlicher Stellen über die Kultur zu erlangen.

Gustav Horbel aber, Hauptfigur des Romans, war einfach nur euphorisch, als er 1975 zu den ersten Immatrikulierten im Haus des einst von Wolf Biermann gegründeten b.a.t. gehörte.

Ein Auszug aus dem „Raketenschirm“:

Dann kam der 13. November 1976, Wolf Biermann sang in Köln, wurde am 16. aus der DDR ausgebürgert, tags darauf veröffentlichten Prominente – darunter die Schriftstellerin Christa Wolf und der Filmstar Bernhard Obentraut – einen Protestbrief an die Obrigkeit, der ganz anderes Gewicht hatte als der von ein paar Regiestudenten an ihre Lehrer. In Horbels Augen legte er freilich dieselbe Unterströmung offen: gegen die Bevormundung.

Er sah einen Drehpunkt – so hieß es in der Brecht’schen Dramaturgie – für die Kultur des halben Deutschland: Stimmen im Auftrag der Bevormunder wurden schallverstärkt von uniformierten Medien, Gegenstimmen unterdrückt durch eine Mauer des Schweigens – würden Wahrhaftigkeit und Offenheit dennoch über Erpressung und Lüge siegen?

Horbel wollte diesen Drehpunkt nicht verpassen. Bei einer Versammlung des Instituts war es soweit, der Direktor persönlich stellte Bernhard Obentraut an den Pranger: Der Star sei schon wegen seiner privilegierten Hobbys, seiner arroganten Auftritte unglaubwürdig. Da erhob sich Gustav, verteidigte den abwesenden Freund mit schulmäßiger Dialektik: Umso höher sei zu bewerten, dass Obentraut offen ausgesprochen habe, was viele Menschen im Land nur hinter vorgehaltener Hand sagten, denn damit riskiere er den Verlust eben dieser Privilegien.

Dem DEFA-Chef, einem der Dozenten des Instituts, reichte das, er explodierte: Unerträglich sei, wenn ein Student westlicher Propaganda folge, die sozialistische Demokratie – von offener und ehrlicher Aussprache geprägt – dulde keine Stellungnahme zu Diensten des Klassenfeindes, dessen ideologische Diversion gerade im Fall Biermann einen Höhepunkt gefunden habe.

Gustav saß am unteren Ende des Tisches; manche Studenten betrachteten ihre Fingernägel, ihr Schreibzeug, manche Augen in der Runde waren auf ihn gerichtet: er wurde zum Außenseiter, zum Nestbeschmutzer, er hatte sich verraten, nun nahm man ihn maß. Der Augenblick – just dieser Blick vieler Augen, aller zur Gruppe, zum Clan, zur Korporation gehörigen – war ihm nicht unbekannt; es war der Augen-Blick der ihm von nun an seine Rolle zuwies. Seine Haare sträubten sich, sein Magen schnurrte zusammen, die Hände wurden ihm feucht. Hätte er sich umgeschaut, wäre ihm nicht ein einziges Kopfnicken, nicht eine einzige Miene der Zustimmung, auch nur des Verständnisses begegnet. Er war isoliert.

Dass die Versammlung nicht sogleich zum Tribunal geriet, verdankte er der Intervention eines neu immatrikulierten Studenten. Man müsse wohl, meinte jener, die ökonomischen so wie die politischen und ideologischen Vorbedingungen des Biermannschen Eklats in den Vorlesungen des Marxismus-Leninismus, auch in der FDJ-Versammlung gründlich erörtern, damit solche Fehleinschätzungen wie die Gustavs – dabei blickte er ihn mit einer Mischung aus gönnerhafter Verachtung und Mitleid an – durch vernünftige, auf dem Boden der Tatsachen gründende Fakten korrigiert würden. Das entkrampfte die Situation; man verzichtete mit Rücksicht auf die Tochter von Christa Wolf darauf, die Studenten jene Erklärung unterschreiben zu lassen, in der die Institutsleitung ihr volles Einverständnis mit den Maßnahmen von Partei und Regierung bekundete. Gegenstimmen: keine.

Die Runde löste sich rasch auf, nur einer von Gustavs Kommilitonen legte ihm den Arm um die Schulter und sagte: „Gustav, dass du zu all diesem Durcheinander eine so klare Meinung hast, wundert mich. Ich kann immer noch nicht genau zuordnen, was da seit ein paar Tagen passiert. Möchtest du nicht mal bei einem Bier mit mir über deine Einstellung reden? Vielleicht verstehe ich dich dann besser.“ Er kniff ein Auge zu. „Na, wie wär ’s?“

Das Geschenk des Lebens – mit Gebrauchsanweisung?

Alexis de Tocqueville 1805 – 1859

Egal ob einer an Gott oder an die Unerschöpflichkeit und Allgegenwart des Universums glaubt: Das Leben ist sein Geschenk. Freiheit bedeutet, sich im Gebrauch dieses Geschenks zu üben, das geht nur in Gesellschaft, es geht nicht ohne Konflikte und nur begrenzte Zeit.
Erfreulicherweise hat die Menschheit gelernt, sich über Erfahrungen mit Konflikten auszutauschen – man nennt das Kommunikation. Wie alle Lebensprozesse folgt freilich auch sie Wünschen, Ängsten, unbewussten mehr als bewussten Zielen, sie sind so unterschiedlich wie die Individuen, deren Wahrnehmung sie formen. Ebenso verhält es sich mit der Wahrnehmung all jener sozialen Verbünde, in die der Einzelne hineingeboren wird, in denen er heranwächst und die seiner Freiheit Grenzen setzen. Neben den Konflikten zwischen Individuen wird es folglich ebenso Konflikte zwischen dem Einzelnen und seinem Sozialverbund geben wie zwischen verschiedenen Sozialverbünden. Gewalt und Krieg sind naturwüchsige Strategien, solche Konflikte zu lösen, Gewalt – Macht – Lust ist ein tief verwurzelter Impuls, der sie treibt. Sein Erfolg hat ein enormes Repertoire an Formen und Instrumenten hervorgebracht, sie sind allesamt in Kulturen aufgehoben, mir ist keine einzige bekannt, die als „ausgestorben“ gelten dürfte.
Gewalt schafft Leiden. So unvermeidlich es zum Leben gehört, so unvermeidlich wächst der Wunsch nach dem Ende des Leidens, der Wunsch es doch zu vermeiden.
„Weh spricht vergeh‘, Weh spricht vergeh‘ – doch alle Lust will Ewigkeit“, heißt es in Nietzsches „Zarathustra“ – Gustav Mahler hat diese tiefste Strebung in Musik gefasst. Der Traum vom Paradies, vom ewigen Frieden ist so unzerstörbar wie die großen Kunstwerke, die ihm nachgehen und Gestalt verleihen.
Alles Bemühen, aus dem Traum Realität werden zu lassen, führte indessen zur Hölle auf Erden. Oder – wie Georg Trakl schrieb – „in schwarze Verwesung“. Der ewige Frieden ist nichts anderes als Bewegungslosigkeit. Konflikt- und gewaltfrei ist nur eine Gesellschaft ohne Freiheit, unsterblich nur der Tod. Wer Gebrauchsanweisungen fürs Leben an Aussichten auf Unsterblichkeit (bzw. eine beliebige Verlängerung des Lebens) oder auf ewigen Frieden knüpft, bescheinigt allen, die sich an seine Gebrauchsanweisung nicht zu halten bereit sind, ihre Minderwertigkeit. Er signalisiert, dass es durchaus erhabener Lebenszweck sein kann, sie auszurotten. Er wird, sagt die Erfahrung, Gefolgschaft finden, und deren Impuls zu Gewalt – Macht – Lust freisetzen: Massenhaft werden sie sich als geweihtes Kollektiv erleben, als von individueller Verantwortung fürs Denunzieren, Diffamieren, Anprangern, Abschlachten befreit. Gläubige werden zu Soldaten „für das Gute“, zu Mördern, Vergewaltigern, Plünderern – bis der Krieg sie frisst.

Buchcover zu Peter H. Wilson Der Dreißigjährige Krieg

Entstehen und Dynamik des 30jährigen Krieges sind von bestürzender Aktualität

Was sie über Jahrhunderte im Namen einer Ethnie, Religion oder Nation wurden und werden, steigert sich seit Marx, Engels, Lenin und all ihren schrägen Schülern unter den „Anti“-Transparenten zum Totalitarismus: Die ideologisch aufgeladene Meute gewinnt nicht mehr nur Territorien oder Güter, sondern den „Ewigen Frieden“, die „lichte Zukunft der Menschheit“, den Gipfel des „Humanismus“. Dafür wird das ganze Instrumentarium mobilisiert: Total bis zur Massenvernichtung des modernen Zeitalters, nuklear, chemisch, biologisch.
Vor allen anderen Instrumenten mobilisiert diese „Mission Imbecile“ zunächst die total einseitige Kommunikation, die Gut und Böse unterscheidet, entsprechende Feindbilder konstruiert und ausmalt, den Gegner aufs äußerste bepöbelt, ihn zum Abschaum ausruft, vernichten will, so er sich nicht unterwirft.
Diese Art Kommunikation schmeichelt dem Selbstgefühl der Gläubigen. Jede einzelne Gegenstimme – sei sie noch so ehrwürdig – ersticken zu können, nährt Allmachtsphantasien bei Spitzeln und Blockwarten. Kommunisten, Nationalsozialisten und dem „real existierender Sozialismus“ verdanken wir einschüchternde Gebrauchsanweisungen zum Leben im „Ewigen Frieden“. Interessanterweise gab es schon zur Entstehungszeit des „Kommunistischen Manifests“ deutliche Hinweise, wie eine Gesellschaft, wenn sie in den Totalitarismus abgleitet, den sozialen Tod des Individuums vorausschickt:
„Der Machthaber sagt hier nicht mehr: ‚Du denkst wie ich, oder du stirbst‘, er sagt: ‚Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten: aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen; denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie sie dir. Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern wirst, so wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen; und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet man auch ihn. Gehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod.'“
Der Text stammt von Alexis de Tocqueville aus seiner Schrift „Über die Demokratie in Amerika“ (1835/1840). Eine genaue Vorstellung vom sozialen Tod hat, wer eine totalitäre Gesellschaft erlebt. Kommunismus, Nationalsozialismus, Islamischer Staat scheuten und scheuen sich nicht, dem sozialen Tod die physische Vernichtung folgen zu lassen.
Wer über Tocquevilles Worte nachdenkt, wird in den derzeit zu beobachtenden Kämpfen um Deutungshoheiten in den global wachsenden Kommunikationsnetzen das Wetterleuchten totalitärer Herrschaft erkennen. Wenn er kann und will, wird er den Wert der Meinungsfreiheit umso höher schätzen. Er wird sich mit aller Kraft gegen das Eiapopeia eines falschen Friedens wehren, der sie ihm nimmt: Um seines begrenzten Lebens und der Nachkommen willen.