Unterwerfung

Wer seine Aufmerksamkeit von den Szenarien der „Klimarettung“ löst und sich mit realen Gefahren dieser Welt befasst, stößt auf beunruhigende ungelöste – womöglich unlösbare? – Konflikte. Ein zusätzlicher Blick in die Geschichte verdeutlicht, dass sie fast jederzeit in Kriege übergehen können, deren Verlauf und Ende Klimaszenarien erledigt. Was sagt die Erfahrung?

Die Eiapopeia- und Grusel-„Narrative“ allgegenwärtiger Quotenmaschinen lügen darüber hinweg. Sie vertrauen auf das Gewohnheitstier im Menschen, sie beschäftigen es mit Krimi, Sport und Talkshows rund um die Uhr, sie „framen“ Informationen passend zu ihrer selbstgewissen „Haltung“ und rechnen sich diese Form verblödenden sozialen „Hausfriedens“ als moralisches Verdienst an, für den jeder zahlungspflichtig ist.

Das funktioniert, weil kaum irgendwer sich nach Konflikten sehnt, fast alle sich aber gern im Fernsehen, Kino, im Buch oder Videospiel mitleidend den Verfolgten als Hüter der Gerechtigkeit gesellen, schadenfroh das Böse unterliegen sehen. Für die meisten sind Krieg, Spucken und Schläge ins Gesicht, Vergewaltigung, Raub, Einbruch in die eigene Wohnung fern ihres realen Erlebens. Sie arbeiten sich daran emotional in virtuellen Räumen lesend, zuschauend oder -hörend, Killer-spielend oder in den Scharmützeln der Social Media ab: Sie haben das alles jederzeit unter Kontrolle, so genießen sie den Kitzel der Angstlust. Falls sie bei facebook oder twitter unter verbalen Beschuss geraten, gar in einen „Shitstorm“, erwacht jäh der Wunsch, diesen Gegner auch unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt Organisationen, die ihnen beizustehen versprechen, natürlich bieten sich – fürsorglich – der Staat und die Quotenmaschinen an.

Inzwischen dringen allerdings die weltweit brennenden Konflikte ins reale Leben ein. Das Vertrauen der Vielen in eine staatliche Ordnung, die sich das Gewaltmonopol vorbehält, wird erschüttert, wenn sie außerstande ist, es durchzusetzen. Polizisten sind längst permanent ebenso überfordert wie Staatsanwälte und Gerichte. Derweil blüht das Geschäft von Anwälten, die soziale Benachteiligung, kulturellen (religiösen) Hintergrund, persönliche Traumatisierung ihrer kriminellen Klientel wortreich zu deren Verteidigung ins Feld führen. Der Rechtsstaat kapituliert in immer mehr Fällen vor der schieren Masse notwendiger gerichtsfester Ermittlungen.

Es gibt ihn ohnehin nur noch auf dem Papier, weil mindestens ein großer Teil der Justiz nicht mehr unabhängig, sondern in ideologischen Zwangsjacken herrschender Parteien operiert. Diese Parteien aber sind nicht auf das Gemeinwohl fixiert (sofern sie es je waren), sondern auf ihre Machtimpulse. Nur die Konkurrenz mit anderen Parteien zwänge sie, über Grundwerte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Versammlungsfreiheit oder die der Berufsausübung und die Freiheit von Wissenschaft und Kunst nachzudenken. Nur Konkurrenz zwänge sie, Freiräume und Widerstände zuzulassen. Ist eine solche Konkurrenz erkennbar? In meinen Augen nicht.

Im Einparteiensystem der DDR waren Alternativen eliminiert, die „GroKo“ lässt, anhand der Aktivitäten zur Zensur im Internet und zur Ermächtigung nichtstaatlicher Korporationen erkennen, wohin sie steuert. Der BND, der Verfassungsschutz mögen demokratischer Kontrolle unterliegen – eine wachsende Zahl von mit Steuern finanzierten und von Parteien oder NGO gesteuerten politischen Korporationen sind längst unkontrollierbar. Und sie zeigen erstaunlichen Ehrgeiz, unliebsame Meinungen im bislang unkontrollierten Internet zu unterdrücken. Sie wollen eine außerstaatliche Zensur, sie wollen unangreifbar werden wie Öffentlich-Rechtliche Anstalten, deren Quotenfixierung, Versorgungsmonopol und Finanzgebaren seit langem ihren grundgesetzlichen Auftrag zur Farce werden lässt.

Sie alle haben ihre Wirklichkeiten: Die Parteiführer, die Medienchefs, die Mitläufer, die wütenden Gegenspieler von der linken, rechten, feministischen, Gender-, Islam-, Irgendwiefundi-, Veganerfront. In diesen Wirklichkeiten werden genau jene realen Konfliktfelder ausgeblendet, für die sie keine Konzepte und Strategien haben. Die Realität aber hat eine unendlich scharfe, harte und unausweichliche Kante. Sie scheidet Wollen von Erfahrung, Wahnideen von Wissen.

Per Achterbahn ins Nirgendwo?

KershawAchterbahn2dDieses Buch ist ein Solitär in der Vermittlung jüngerer europäischer Geschichte. Am Ehesten würde man ihm gerecht, wenn man es zum Ausgangspunkt möglichst vieler Debatten zwischen Generationen, Nationalitäten, politischen Einstellungen machte – eine Hoffnung, die in scharfem Kontrast zum herrschenden Geist in der Politik, in den Medien und leider auch zur mangelnden Sorgfalt in der Gestaltung von Schulbüchern und Lehrplänen steht.

Den Titel hat Ian Kershaw trefflich gewählt. Sowohl was das schwindelerregende Auf und Ab, das Tempo und die Rasanz anlangt, mit der seit 1950 Geschichte „erfahren“ wird, als auch die rasch wechselnden Perspektiven und atemberaubenden Momente nahe am Absturz: Der Zeitgenosse bestätigt ihm, dass er ihn zu einer großartigen Reise einlud. Sie führte durch erschreckende und bezaubernde Landschaften, lenkte den Blick auf unbekannte Details, schärfte das Gefühl für abrupte Wendungen. Sie ist noch nicht zu Ende.

Die Bibliographie belegt ein veritables Gebirge an Informationen, das Ian Kershaw durchforscht hat, er hat dort hinein klug die Trasse seiner Achterbahn konstruiert, er baut Ausblicke auf Krisen und Umbrüche, Personen und Parteien, Ökonomie, Politik und Kultur, auf Nationen, Europa und die Welt ein und setzt sie zueinander in Beziehung. So wird etwa das Panorama des Kalten Krieges zugleich breit und tiefenscharf. Beim Betrachten desselben ebenso wie beim Passieren von Abgründen möglicher nuklearer Konflikte oder des hochbrandenden Jubels nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs erlebte ich meine eigene Vergangenheit als sehr präsent – wie viel Glück ich hatte, dem DDR-Sozialismus zu entkommen! – und doch sehr, sehr fern. Das liegt wohl an der klaren, unverschnörkelten Sprache des Erzählers, sie ist frei von Effekten, aber keineswegs ermüdend. Dafür ist gewiss auch dem Übersetzer Klaus-Dieter Schmidt zu danken.

Freilich: Wer Höhen und Tiefen der Historie selbst “durchwandert” hat, schaut mit anderen Augen auf die Bilder dieser Berg- und Talfahrt als Jüngere. Ihnen mögen sie wie Kulissen erscheinen, die sich mit anderen Geschichtsbildern vergleichen lassen. Ian Kershaw verhehlt nicht, dass er seine Route durchs zurückliegende Jahrzehnt an offiziösen Sichtachsen ausrichtet. So erscheinen etwa Klimawandel und Energiepolitik in allzu bekanntem Ausschnitt. Der Sachverstand von Naturwissenschaftlern und Technikern (nicht einmal der des IPCC) blendet die Chancen der Nukleartechnik für eine gewünschte Begrenzung des Kohlendioxyds in der Atmosphäre längst nicht mehr aus. Kershaw verweilt dagegen beim populistischen Ruf nach “Atomausstieg” – wegen der in Tschernobyl und Fukushima offenbarten Gefahren dieser Technik. Aber wenn dieser Ruf auch ein langes Echo hat: Der vermeintliche Echofelsen ist aus Medienmaché.

Ian Kershaw ist klug genug, kritische Fragen an die Zukunft seiner britischen Heimat und der EU zu stellen, er ermahnt dringlich zu Reformen. Was er sich dabei vom Walten der Bundeskanzlerin Merkel und des Präsidenten Macron verspricht, blieb mir rätselhaft. Bisweilen verengt er die Perspektive, etwa wenn er zunehmenden Islamistischen Terror auf Kolonialismus und fraglos verderbliche Interventionen des Westens im Nahen Osten bzw. in Afrika sowie Benachteiligungen von Moslems in Europa zurückführt. Innersystemische Impulse religiös grundierten Machtwillens kommen kaum ins Blickfeld.

Zeit, einen Blick auf eine zweite Metapher des Autors zu werfen, den “Schraubstock”. Er verwendet sie für die totalitären Regimes des Ostblocks, sie ist einprägsam aber etwas simpel. Es drehten ja nicht nur ein Stalin, Breshnew, Honecker und ihre Gefolgschaft an der Schraube gesellschaftlicher Kontrolle. Da sind Hunderttausende von Rädchen und Hebeln im Gestell des Staates und der Medien, “An-Gestellte”, und was sie treibt, ist nicht nur Einkommen, sondern auch informelle Teilhabe an der Macht. Sie gehören dazu, und Konformität ist der Eintrittspreis.

Solche Organisationen, gern auch als Bürokratie bezeichnet, waren in der Geschichte erstaunlich resilient gegenüber Machtwechseln: Deutsche Beamte blieben nach Hitlers Ermächtigung ebenso in Lohn und Brot wie nach dessen Untergang. Jüngstes Beispiel sind fast problemlos vom IS übernommene Behörden in Teilen des Irak; Houellebecqs Roman “Soumission” (“Die Unterwerfung”) beschreibt den Übergang zur Herrschaft des Islam in Frankreich aus der Sicht eines Hochschul-Angestellten. Ian Kershaw beweist auf der Fahrt mit der Achterbahn auch seine Sachkenntnis in Kunst, Literatur, Musik. Erstaunlicherweise deutet er nur an, welche Fragen sich insbesondere für die Kultur stellen, wenn in der EU, aber auch den UN und zahllosen immer mächtigeren NGO eine supranationale Bürokratie heranwächst, deren Anspruch auf Konformität schon sichtbar, deren Kompetenz zur Lösung der entscheidenden Konflikte in der Welt aber genau deshalb durchaus zweifelhaft ist.

Am Anfang ihrer Amtszeit verkündete Angela Merkel, sie wolle der Bürokratie Schranken setzen. Inzwischen treffen planwirtschaftliche Ausflüge der Bundeskanzlerin – etwa in der Klima-, Energie- und Migrationspolitik – auf ein erstaunliches Einvernehmen bei fast allen Parteien. Auch die Medien gehen gern konform. Widerspruch gegen die uneinlösbaren Wechsel auf europäische, gar globale Lösungen wird gern mit politischem Extremismus in Verbindung gebracht: “Rechts” und “populistisch” sei das. Auch Kershaw zeigt mit dem Finger in diese Richtung. Dass aber in Polen, Ungarn, Österreich konservative Regierungen großen Rückhalt finden, eben weil Frau Merkel und die EU-Bürokratie versagen, klärt er gar nicht als systemischen Mangel auf. Kurz und Orban haben nicht seine Sympathien – anders als der “grüne” Österreichische Präsident Van der Bellen. Das ist schön subjektiv, schmälert nicht das Vergnügen und ist mir viel lieber als vorgebliche „Objektivität“.

Am Schluss der “Achterbahnfahrt” spricht Kershaw vor allem von der Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Unwägbarkeit aktueller Entwicklungen. Nein, eine EUdSSR wird es nicht geben, schon gar kein neues Nazireich. Aber bewegen wir uns nicht derzeit auf den Gleitkissen politischer Korruption weiter Richtung Konformismus? Viktor Frankl hat ihn als ebenso gefährlich für die Demokratie bezeichnet, wie den Totalitarismus, und mit dem Blick auf China, wo der Staat mit totaler Überwachung Konsens und Konformität der Meinungen durchsetzt, ist das beklemmend aktuell.

Unvermeidlich sind und bleiben Konflikte mit solchen Staaten, wenn individuelle Freiheit und Menschenrechte verteidigt werden sollen. Werden die westlichen Demokratien standhalten oder sich – wie auch immer ideologisch fundierten – kollektivistischen Diktaten unterwerfen? Sie haben – z.B. in den KSZE-Verhandlungen – Stärke bewiesen, als sie Menschen- und Bürgerrechte gegen den totalitären Konsens von der Überlegenheit sozialistischer Gesellschaften vertraglich durchsetzten. Vielen Europäern brachte das die Freiheit. Dass ein solcher Prozess in globalen Konflikten möglich wird, ist nicht mehr als eine Hoffnung. Sie zerbräche, wenn in den europäischen Staaten selbst Überwachung und Kontrolle durch bürokratische Apparate – seien es Behörden oder “outgesourcte” Zensur-, Spitzel- und Denunziations-Kollektive – die Freiheit der Bürger auf konforme Schienen zwänge.

 

Ian Kershaw Achterbahn

Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt

Originaltitel: Roller-Coaster. Europe 1950-2017

Originalverlag: Allen Lane

Hardcover mit Schutzumschlag, 832 Seiten, 15,0 x 22,7 cm

mit Abbildungen

ISBN: 978-3-421-04734-2

Startup in Freiheit und Absturz der Lügner (Schluss)

Zurück zu Teil 3

Stasi und KSZEDas KSZE-Nachfolgetreffen in Madrid war noch beeinträchtigt vom Afghanistan-Krieg und dem NATO-Doppelbeschluss. Aber seit 1984 wurde in Stockholm über „Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen” verhandelt (VSBM), und politisch verbindliche Zugeständnisse – vor allem im Militärischen – begünstigten die Vorbereitungen zur nächsten KSZE-Konferenz in Wien. Diese letzten Kapitel von “Staatssicherheit und KSZE-Prozess” sind gewiss die aufregendsten. Denn als im März 1985 Michail Sergejewtisch Gorbatschow an die Spitze der KPdSU rückte, wendete sich das Geschehen zwar nicht sofort, aber je weiter er seine Reformen gegen den Widerstand im Apparat – nicht zuletzt des KGB – durchsetzen konnte, desto dynamischer verliefen auch die Prozesse der Entspannung. Die SED und ihre Stasi waren ratlos. International sahen sie sich zunehmend isoliert, im Inneren wuchs der Widerstand parallel zur Zahl der Ausreiseersuchen.

Selvage und Süß zeichnen in vielen Facetten jene Erstarrung der DDR-Institutionen, die den Sturz von Honecker, Mielke, Krenz, den Fall der Mauer und das Ende der DDR herbeiführte. Ein Blick auf die personelle Struktur der DDR-Delegationen, auf den Mangel an Entscheidungsfähigkeit jenseits der von “ganz oben” verordneten Direktiven, die piefige und duckmäuserische Subalternität, die sich in der Figur Mielkes manifestiert, beweist: Diese Hierarchien der organisierten Verantwortungslosigkeit waren schlechterdings nicht lernfähig. Dass sich sogar innerhalb des Apparates – etwa an der Stasi-Hochschule in Potsdam – kritische Stimmen regten, blieb einfach unbeachtet.

So bildeten sich letztlich auch in der DDR oppositionelle Gruppen, die sich mit tschechischen (“Charta 77”), polnischen, westeuropäischen vernetzten. Die Stasi konnte zwar noch Druck ausüben, dass sie bekannt wurden, war in den 80er Jahren längst nicht mehr zu kontrollieren. In Schwedt an der Oder – außerhalb des Empfangsbereichs der Westberliner Sender – ließ die Kreisleitung der SED in neugebauten Wohnblocks sogar Kabelfernsehen installieren, “Feindsender” inklusive, um qualifizierte Arbeitskräfte für das Petrolchemische Kombinat anzulocken.

TitelVon dort stammen die letzten auffindbaren Akten meiner Karriere als “feindlich-negative Person”. Beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) fand sich nichts aus den Jahren 1983 bis 89, alles spricht dafür, dass sie mit dem Gros der Unterlagen bei der “Hauptabteilung Aufklärung” vernichtet wurden, denn spätestens mit meiner Ausreise wurde ich wegen meiner Kontakte in die Bundesrepublik zur Zielperson für die HVA.

Die bis 1987 von Markus Wolf geführte Auslandsorganisation war – vielleicht als einzige – imstande, einen “Plan B” für einen eventuellen Machtwechsel zu erstellen, und die Verbindungen zum KGB rissen nicht ab. Kräften, die von sozialistischen Ideen zur Weltverbesserung nicht lassen mochten, erschlossen die globalen Entwicklungen seit 1990 viel Raum, neue Formen der Organisation und Einflussnahme auf Wirtschaft und Regierungen. China und Russland haben gelernt, und was dort an Überwachung und Verfolgung auf oppositionelle wartet, ist kaum vorstellbar. Und wie steht es bei uns mit den Bürgerrechten, die im KSZE-Prozess dem sozialistischen Lager abgetrotzt wurden?

Brauchen mehr oder weniger sozialistische Parteien in Europa nur deshalb keinen offiziellen Staatsfunk, keine “Presseorgane” und keine Stasi mehr, weil sie sich auf einen wohligen Konformismus verlassen können, der nicht mehr wahrnimmt, wie Freiheiten und Rechte des Einzelnen von etatistischen und korporativen Übergriffen paralysiert werden? In den nicht selten aus Steuern finanzierten “NGO” finden sich reichlich Partner für Kollektivintereressen aller Art. Es entstehen die seltsamsten Bündnisse zur informellen und materiellen Machtübernahme. In den Medien gilt es als ehrenhaft, sich selbst zum Moralapostel und Schallverstärker politischer Strömungen zu erheben, abweichende Meinungen zu schmähen und einer Zensur das Wort zu reden, die jeweils den anderen trifft. Worte wie „durchregieren“ und „alternativlos“ machen Karriere, als deuteten sie nicht auf oligarchische, gar totalitäre Absichten.

Was die KSZE, was Politiker von Format wie Willy Brandt, Egon Bahr, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Schmidt, Gorbatschow, Schewardnadse und Dissidenten wie Sacharow, Vaclav Havel, Lech Walesa erreichten, ist erstaunlich. Aber alle Konflikte, die auszutragen waren, um Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat verpflichtend festzuschreiben, sind  heute weltweit nur in wenigen Regionen lösbar. Und so viel belegt dieses lesenswerte und als Quelle unschätzbare Buch: Jede Politbürokratie, sei es die von Regierenden oder NGO, versagt an dieser Aufgabe so jämmerlich wie das „moralisch bessere Deutschland“ von Erich & Erich.

Startup in Freiheit und Absturz der Lügner (3)

Zurück zu Teil 2

Die Kapitel 5 bis 7 in “Staatssicherheit und KSZE-Prozess” arbeiten detailreich diplomatische Grabenkämpfe während der Vorbereitung und im Verlauf der Konferenzen in Belgrad und Madrid auf. In all den langwierigen Verhandlungen bleiben grundsätzliche Frontverläufe unverändert: Der Westen will mehr Reise- und Meinungsfreiheit heraushandeln, macht wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit von besserem Informationsaustausch, vor allem aber von der Behandlung oppositioneller Menschenrechtler, etwa des Atomphysikers Sacharow abhängig. Die UdSSR-Führung und die ihr gefügigen Vertreter der Staaten des “Warschauer Vertrages” zielen auf Abrüstungs- und Entspannungspolitik. Sie soll die konventionelle und nukleare Überlegenheit des Ostblocks ebenso festschreiben , wie die politischen Dominanzen mindestens in Europa. Langfristig soll der Sozialismus seinen Siegeszug in der Welt fortsetzen – etwa indem die “jungen Nationalstaaten” Afrikas einbezogen werden.

Die Stasi war dabei vor allem Dienstleister. Sie war personell in den Delegationen der DDR stark vertreten, sorgte mit Hilfe hochrangiger Quellen im Westen dafür, dass dessen Standpunkte, Ziele und Absprachen bekannt und einzuordnen waren, infiltrierte und beeinflusste westliche Friedensbewegungen dahingehend, die Überlegenheit der konventionellen und nuklearen Bewaffnung des Warschauer Paktes zu ignorieren. DDR-Bürgern suggerierte die Propaganda derweil vom Kindergarten an, es gäbe „gute“ eigene und „böse“ Nuklearwaffen des Klassenfeindes. Insbesondere die Debatte um die „Neutronenbombe“ war auszuschlachten. Nebeneffekt im Westen: „Strahlungsrisiken“ friedlicher Nutzung der Kernkraft wurden zur ideologische Waffe der Atomkraftgegner in NGO und bei den „Grünen“. Der „Atomstaat“ passte in die östliche Gegenoffensive, wenn um Menschenrechte gestritten wurde, ebenso wie Frauenrechte, Arbeitslosigkeit und die Ausbeutung von Gastarbeitern. Sogar NATO-Generäle ließen sich einspannen für Friedensinitiativen samt Stasi-gesteuerten, publikumswirksamen Kampagnen.

Eher unerwünscht für SED und Stasi: Auch in der DDR erstarkte eine unabhängige Friedensbewegung, die mit dem Emblem „Schwerter zu Pflugscharen“ Abrüstung einforderte – vor allem die der lange vor dem „NATO-Doppelbeschluss“  im Osten stationierten Mittelstreckenraketen. Obendrein protestierte sie gegen gegen die Militarisierung in Schulen und anderen gesellschaftlichen Bereichen. Erich Mielkes Apparat hatte alle Hände voll zu tun, auch meine Akte als „feindlich-negative Person“ wuchs wegen „pazfistischer Tendenzen“ kräftig.

Das Schlussdokument des Treffens von Madrid 1983 zeigt gleichwohl die in wenigen Jahren zuungunsten des Ostens verschobenen Kräfteverhältnisse. Die Versuche, einen Keil zwischen die USA und die westeuropäischen Staaten zu treiben, brachten wenig, am Ende blieb ein von den neutralen und nicht-paktgebundenen Staaten (N+N) eingebrachter, von Spanien ergänzter Kompromiss, bei dem die UdSSR und ihre Verbündeten Zugeständnisse in Menschenrechtsfragen machten: Wegen der Ausgaben für Bewaffnung und die Engagements in Afghanistan und Afrika brach ihre Wirtschaft ein. Die Konferenzen zur Abrüstung und Entspannung durfte man nicht gefährden.

KPTreffen1976

Danach gingen die „Eurokommunisten“ von der Fahne

Die Lage war anders als noch 1974: In Portugal wurde damals die Diktatur von einem Militärputsch ab- und das Kolonialreich aufgelöst, bald darauf ging nach dem Tode Francos auch in Spanien die Macht in neue Hände über. Gleichzeitig gewannen sozialistische und kommunistische Strömungen in Westeuropa an Attraktivität. Ein hochrangiger SED-Funktionär aus der “Zentralverwaltung für Statistik”, mit dem ich im “Mocca-Eck” seines Amtsgebäudes saß, fragte mich, ob nicht vielleicht Portugal bald zu den “Warschauer Staaten” gehören werde. Ich wunderte mich über soviel Optimismus, denn die “Eurokommunisten” waren zur KPdSU auf  Distanz, genossen Sympathien, weil sie die Militärinvasion gegen den “Prager Frühling” verurteilt hatten. Portugal war Gründungsmitglied der NATO seit 1949, ich konnte mir nicht vorstellen, dass selbst der niedrigste Lebensstandard einen Portugiesen dazu treiben würde, jene Freiheiten aufzugeben, die ihm just mit dem Sieg über eine jahrzehntelange Diktatur zugefallen waren. Mein Gesprächspartner lachte mich aus.

Ende der 70er Jahre war seine Zuversicht durch katastrophale Wirtschaftsdaten merklich angeschlagen – wenn er auch nicht offen darüber sprechen durfte. Aber im “Mocca-Eck” wurde statt Bohnenkaffee “Mocca-Fix”, ein Gemisch mit Kaffee-Ersatz gebrüht. Devisen waren knapp, also auch Importgüter wie Kaffee, die Lage der DDR wurde immer prekärer. Die Bevölkerung war dank Westfernsehen und Besuchsreisen von Freunden und Verwandten über die Standards ihrer bundesdeutschen Landsleute auf dem Laufenden. Das Kaffee-Problem schaffte besondere Unruhe. Ein Militärputsch in Äthiopien kam zu Hilfe: Die DDR lieferte dem blutigen Diktator Mengistu Haile Mariam Waffen und bekam Kaffee. “Blaue gegen rote Bohnen” hieß das Geschäft bei Insidern.

Unterdessen bestätigten sich die größten Befürchtungen von SED und Stasi bezüglich des KSZE-Prozesses: Die “Ausreisebewegung” schwoll an, war auch mit rigiden Maßnahmen nur vorübergehend einzudämmen.

Hier entstanden Konflikte zur KPdSU-Führung. Sie wollte Zugeständnisse zum “Korb 3” der Verträge, also “menschlichen Erleichterungen” wie etwa Ehen mit Ausländern aus dem “NSW” (dem nicht-sozialistischen Währungsgebiet”) machen, um beim Thema Abrüstung und „vertrauensbildende Maßnahmen“ voranzukommen. Andererseits missfielen ihr innerdeutsche Annäherungen. Wachsender Reiseverkehr, Milliardenkredite aus Bonn – vermittelt durch Franz-Josef Strauß – das war nicht nach dem Geschmack von Breshnew und seinem Nachfolger Andropow, dem vormaligen Chef des KGB. Douglas Selvage und Walter Süß gehen solchen komplizierten Spannungen in vielen Details nach. Für den Zeitzeugen werden die Atmosphäre der Verhandlungen und die Geschehnisse jener Zeit noch einmal erlebbar.

Weiter zum Schluss

Startup in Freiheit und Absturz der Lügner (1)

DDR_EntlassungAm 16. März waren es genau 30 Jahre, dass ich der Fürsorge von SED und Stasi, von Erich & Erich entkam: Ich schleppte zwei Koffer und einen Rucksack durch die Katakomben des Grenzübergangs am Berliner Bahnhof Friedrichstraße und bestieg einen Schnellzug quer durch Mauern und Stacheldraht. Mein wichtigster Besitz: die Urkunde über die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Ich nahm die notwendigsten Habseligkeiten für die Reise zu meinem unbekannten Vater mit. Er hatte mitgeholfen, dass ich in die Freiheit entlassen wurde. “Familienzusammenführung“ hieß das offiziell, der Sohn war fast 39 Jahre alt, die Bundesrepublik zahlte der DDR dafür fast 100 Tausend D-Mark. Hinter mir lagen Jahre des Berufsverbots, mein neues Leben im Westen würde ich als Mr. Nobody beginnen, als einer von zahllosen Flüchtlingen.

“Wenn Sie in einem halben Jahr als Arbeitsloser am Hamburger Hafen sitzen”, gab mir ein betreuender Stasi mit auf den Weg, “werden Sie sich in die DDR zurücksehnen.” Tatsächlich saß ich dort schon einige Wochen später, “arbeitslos”, von Sehnsucht keine Spur, stattdessen mit der Erfahrung, dass manche bundesdeutschen Bürokraten meine Erinnerung an ihre Kollegen im Osten noch lange wach halten würden. Tief eingeprägt hat sich mir ein Behördenangestellter mit dem passenden Namen Gottesknecht. Er teilte das Urteil des Ostberliner Betreuers, meine Chancen betreffend, vollkommen. Im nachhinein war ich beiden dankbar: Sie hielten meinen Willen zur Freiheit und zum Widerstand gegen kollektivistische Weisheit wach. So durfte ich arbeiten, so entstanden meine Bücher.

Stasi und KSZEUnd nun kam mir in diesen Tagen – wie gerufen – aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ein wissenschaftliches Werk ins Haus, gewichtig im doppelten Sinn. Es erhellt umfassend politische Hintergründe jener 20 Jahre, als die Mauer brüchig wurde, das Tor in die Freiheit sich endlich einen Spalt breit öffnete, Menschenströme es aufdrückten und die zunächst Zurückgebliebenen Mut fassten, Erich & Erich samt Politbürokraten nebst einem Heer von gefügigen Journalisten und “Kulturschaffenden” den roten Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Im Vergleich zu den 40 Jahren der Existenz des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ war das wirklich so etwas wie ein historischer Ruck, dem der Sturz folgte. Aber er kam nicht von ungefähr.

Douglas Selvage und Walter Süß haben für die Abteilung Bildung und Forschung des BStU eine gewaltige Menge Quellen studiert und auf 761 Seiten ein Kompendium des Geschehens hinter den Kulissen der KSZE-Verhandlungen zwischen 1972 und 1989 geschaffen, das mich einsog wie der beste Thriller. Es beschäftigt mich immer noch, es wird eine Weile brauchen, bis alles genauer gelesen, verdaut und sortiert ist. Gleichwohl empfehle ich heute schon allen, die sich nicht nur von Berufs wegen für Vergangenheit und Zukunft unseres Landes, des Kontinents und der Beziehungen zu den Weltmächten USA und China interessieren, die Lektüre.

Dichter und aufregender kann einer sich seiner Erfahrungen nicht vergewissern, als beim Studieren der Korrelationen von selbst erlebten Konflikten, Hoffnungen, Niederlagen, Wendungen und denen der handelnden, ver-handelnden Personen in den damaligen politischen Lagern. Das beste: Er kann begreifen, weshalb die Selbstgewissen, vom Dogma Geblendeten, im Glauben an die eigene höhere Berufung scheitern, weil sie scheinbar Banales übersehen. All ihre taktischen und strategischen Machtroutinen erweisen sich als insuffizient gegenüber der Realität. Und das betrifft nicht nur den untergegangenen Sozialismus. Darum ist dieses Buch mehr wert als eine Rezension, es verdient jede Aufmerksamkeit. Ich werde mich bemühen, es in mehreren Artikeln vorzustellen.

Weiter mit Teil 2

Geschenkt: “Die geliehene Erde”

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Hieronymus Bosch „Das irdische Paradies“

Wir Lebenden – so lese und höre ich immer wieder einmal – haben die Erde nur von zukünftigen Generationen geliehen. Wir seien also verpflichtet, durch nachhaltiges Wirtschaften, durch achtsamen Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen diesen Nachfahren eine wohl bestellte Erde zu übergeben. Mindestens so wohl bestellt, wie die „Leihgeber“ dieselbe vorzufinden wünschen, wenn nicht besser.

Das bedeutet nichts anderes, als sämtliche Ansprüche von vorgestellten Menschen einer vorgestellten Zukunft samt dem vorgestellten Zustand von Tieren, Pflanzen, natürlichen Ressourcen zu Maßgaben heutiger Entscheidungen zu machen. So versuchen fürsorglichen Eltern sich die Zukunft ihrer Kinder vorzustellen, sie wünschen, dass ihre Kinder es „einmal besser haben“ sollen. Gute Eltern! Gute Eltern erziehen ihre Kinder dann gewiss auch zu derselben Haltung: Auch die haben ja nur von Nachfahren geborgt und müssen vererben, was jene an gepflegtem Planeten erwarten.

Ein Blick in die Geschichte weckt bei mir erhebliche Zweifel, ob dabei nicht irgendwer womöglich ins Stolpern kommt. Zugleich frage ich mich, mit welchem Recht einer seinen Vorfahren vorwerfen sollte, ihn nicht in eine wunschgemäß ausgestattete und gepflegte Umwelt hineingeboren, sondern ihm stattdessen gewaltige Probleme hinterlassen zu haben. Muss er sich nicht für den Großteil seiner Ausbildung und seines Arbeitslebens mehr oder weniger engagiert, fleißig, manchmal erfolgreich mit „ererbten“ Konflikten befassen? Unsereiner hatte reichlich Gründe, das Verhalten von Eltern und Großeltern kritisch zu betrachten. Durfte ich also nicht meiner Mutter und Großmutter vorwerfen, durch das Festhalten an Familientraditionen, durch Dulden, gar Unterstützen des Nationalsozialismus sich mitschuldig gemacht zu haben an Krieg und Massenmorden, an den folgenden Mangeljahren, die meine und meiner Mitschüler Kindheit und Jugend prägten?

Das tat ich durchaus, dazu wurde ich von manchem Lehrer und den „Jugendorganisationen“ der DDR unablässig angeleitet. Dennoch gelang es insbesondere meiner Großmutter, meine Neugier und mein Interesse für Überkommenes, für Glück und Unglück der Vorfahren zu entzünden. Womöglich noch schlimmer: Sie brachte mich ans Lesen. Sonntags besuchte ich den Kindergottesdienst, nicht weil sie es forderte, sondern weil es mir dort gefiel. Natürlich lernte ich so auch das vierte Gebot kennen: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass dir‘s wohl ergehe und du lange lebest auf Erden.“ Ein Gebot, das auf Nachfahren verpflichtet, gibt es nicht. Kinder kommen in jüdisch-christlichen Geboten nicht vor, außer als diejenigen, die ihren Eltern Respekt schulden.

Dekalog

Dekalog-Pergament 1768

An dieser Stelle empfehle ich, die „Zehn Gebote“ der Juden und Christen einmal ebenso an der Realität zu prüfen, wie die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik“. 1958 von SED-Chef Ulbricht verkündet, 1963 ins Parteiprogramm aufgenommen, sollten sie uns zu neuen, sozialistischen Menschen erziehen. Lassen wir Glaubensfragen einmal außen vor: Welche Verhaltensregel halten Sie für einigermaßen lebenstauglich?

Natürlich haben wir Walter Ulbrichts volkspädagogische Handreichungen damals ebenso ignoriert, wie ich es heute mit derlei Erziehungsversuchen durch Politiker, NGO oder ihnen dienstbare Journalisten tue. Sie verpflichten auf abstrakte kollektive Ziele und haben mit Realitätssinn so wenig wie mit der Kenntnis von Naturgesetzen zu tun. Ihre Fragwürdigkeit tarnen Geübtere mit ritueller Mechanik: Worthülsen vom laufenden Band. Heines Wort über „Das alte Entsagungslied, das Eiapopeia vom Himmel, mit dem man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel“ ist Handlungsmaxime der neuesten Weltenretter. Na klar: „Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, ich kenn‘ auch die Herren Verfasser. Ich weiß: sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser.“ Und heute jetten sie klimarettendend oder urlaubend um den Globus, ihre schwere Aufgabe verlangt Opfer.

„Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“, heißt es. Sozialisten bewiesen oft und eindrucksvoll, dass von ideologischem Schwulst zu massiver Unterdrückung jeder Gegenmeinung nur ein kleiner Schritt ist, sobald sie zur Macht kommen. So entstanden sozialistische Paradiese mit einer ganz eigenen Moral – etwa „Alle sind gleich, aber einige sind gleicher.“ Die Sprache wurde politisch angepasst, und wer „1984“ gelesen hat, kennt die bestechende Logik von „Freiheit ist Sklaverei“, „Krieg ist Frieden“… Ich höre heute noch die Fistelstimme des „Spitzbartes“, wenn Politbürokraten die Bevölkerung über die Gnade belehren, in ihrem Paradies gut und gern leben zu dürfen

Die uralten Regeln aus der Bibel erschienen mir dagegen alltagstauglich. Ich versuche bis heute, sie weitgehend einzuhalten. Es hat mir nicht geschadet, gelang freilich nicht immer. Das ging meinen Vorfahren nicht anders, deshalb schaue ich mit einigem Respekt auf ihre Leistungen, entdecke dabei Erstaunliches und nehme jene Moralprediger nicht mehr ernst, die ihre eigene Großartigkeit durch „brutalstmögliche“ Aufklärung des Versagens überragender Persönlichkeiten der Geschichte beweisen wollen. Nur auf den Schultern makellos reiner Heroen wollen sie zu stehen kommen. Den Ansprüchen von Feministen, Philosemiten, Umwelt- und Tierschützern, Menschenrechtsaktivisten und Anti-Irgendwas-Kämpfern müssen die Unter-stützenden (korrekt gegendert!) entsprechen, ansonsten blüht ihnen posthum der Pranger.

Das Problem dabei: in der Realität sind wir von all den Milliarden vor uns im historischen Geschehen Lebenden untrennbar, auch von den schlimmsten Übeltätern. Wir können es uns nicht aussuchen, denn wir hängen an allen Prozessen, unterliegen all den bis ins Molkeulargenetische ausgeprägten Impulsen der Entwicklungsgeschichte, die Menschen mit dem Universum verbinden. Die Geschichte war und ist nicht änderbar, nur interpretierbar. Man nennt das jetzt „Narrativ“, und im Dienste einer Gerechtigkeit, die bei genauerem Hinsehen viele kleine Nutznießerchen hat, darf daran kräftig weggelassen, geschraubt, beschönigt werden, um den eigenen Profit zu mehren. Je größer und mächtiger die Korporation, desto heftiger. Das ist nicht neu, aber seit dem 20. Jahrhundert haben wir gelernt, wie totalitäre Diktaturen Vergangenheit umlügen und versprechen, die Welt zu retten, auch wie sie dabei mit abweichenden Meinungen und mit Menschen umgehen, die sie äußern.

Mag sein, dass Johann Sebastian Bach – wie die allermeisten seiner Zeitgenossen – judenfeindlich eingestellt war. Seine Musik ist es nicht. Wenn das Werk mehr weiß als sein Schöpfer, wird es überleben. Eine widerlegte Theorie aber wird nicht dadurch richtig, dass sie als religiöse Wahnidee fortexistiert und womöglich Gesellschaften umstürzt. Sie hat die Wahrheit gegen sich: unsere gelebte, auf Vergangenem gründende Realität. Sie schenkt die Freiheit, Nein zu sagen, wenn Ideologen und Politbürokraten die Zukunft bewirtschaften wollen.

Wie aus Kindern Mitläufer werden

Wenn Menschen massenhaft Feindbilder übernehmen sollen, erreichen Propagandisten einer höheren Moral – egal welcher Religion oder sonstiger Ideologie – dies nur, indem sie einer hinreichend großen Zahl von Individuen Teilhabe an kollektiver Macht, kollektivem Nutzen versprechen. Die Nazis gaben ihren Mitläufern zahllose Dienstränge und Ehrenzeichen, Kommunisten verhießen das Reich der leistungslosen Anspruchsberechtigung, das Paradies auf Erden statt im Jenseits. Zugleich zeigten sie ihren Anhängern, bei wem sie sich ihre Reichtümer, ihre Wohlfahrt holen konnten. Die Grundimpulse des Erlangens und Vermeidens wurden auf “Mir nützt, was jenen schadet” fokussiert, denkende Individuen verknäuelten sich in besinnungslosem Feldgeschrei – wie die Schafe mit „Vierbeiner gut – Zweibeiner schlecht“ – auf Orwells Farm oder klammheimlicher Verschwörung zu gewaltbereiten Kollektiven. Es funktioniert immer und überall, und es funktioniert vor allem bei Kindern und Heranwachsenden.

Das Beispiel Greta Thunberg zeigt, wie sie sich massenhaft mobilisieren lassen: Kinder und Jugendliche sind besonders empfänglich dafür, an der Macht der Erwachsenen teilzuhaben. Diese Form kollektiven Hochgefühls erlebte meine Mutter bei der Hitlerjugend. Erst mit der Zeit dämmerte mir, dass “Junge Pioniere” und “FDJ” in der DDR demselben Schema folgten. Wie viele Kinder in China während Maos Kulturrevolution (1966 bis zu Maos Tod 1976) zitterte meine Frau, in Nanjing (Nanking) geboren, jeden Tag vor Angst, dass “Rote Garden” ihre Großeltern öffentlich demütigen, womöglich totschlagen würden. Deutsche Linke, als “68er” geschichtsnotorisch, feierten derweil mit erhobener Maobibel die Pogrome gegen alles Bürgerliche, sie hätten gern die deutsche “Bourgeoisie” alsbald enteignet.
Wenn hier und heute Ideologen und Politbürokraten die Verbrechen sozialistischer Regimes beschönigen und den Niedergang der Bildung an deutschen Schulen und Hochschulen herbeiführen, wenn sie wieder Schulkinder für ihre Wahnvorstellungen von Weltenrettung und Menschenverbesserung in Dienst nehmen, bedarf es keiner stärkeren Warnsignale: Ihre Ziele sind totalitär.

Ihre Mittel sind bekannt:

  • Das Verstellen der Wahrnehmung und der Sprache
  • Unablässiger Konformitätsdruck
  • Einschüchtern und “Zersetzen” aller “Abweichler” – bis zur vollkommenen sozialen Ächtung und Zerstörung der Existenz
  • Pranger und drakonische Strafen als abschreckende Exempel für andere (“Strafe einen, erziehe Hunderte”)
  • Kollektives Diffamieren bzw. Bestrafen von Freunden und Familien

Sind “die Massen” auf Linie gebracht, expandiert die systematische Unterdrückung so lange, bis die Zerstörungen groß genug sind, allen Zielen den Sinn zu nehmen: Im Krieg oder Bürgerkrieg, wenn nicht zuvor im wirtschaftlichen Kollaps. Erst dann, wenn die ziellos Vereinzelten wieder vor der Frage nach dem Sinn stehen, hat die Vernunft eine Chance zur Neuordnung. Menschen kooperieren, um zu retten was zu retten ist, es bilden sich wieder Unternehmen, Märkte, ein Rechtsstaat, der die Freiheit des Individuums zum Ziel hat – und eine Kultur unverstellter Wahrnehmung und des freien Austausches von Meinungen. So weit, so unbewältigt die historische Erfahrung – sie kostete Millionen Menschenleben, ungezählte verlorene Lebenschancen und -jahre.

Wir erleben gerade jenen Zustand von Überlagerung, jenes Sowohl-als-auch und Weder-Noch, in dem über Krieg und Frieden entschieden wird. Das nannte man vierzig Jahre lang “Kalter Krieg”, das “Gleichgewicht des Schreckens” verhinderte das Schlimmste, aber nicht zahllose Kriege, nicht das Emporkommen von “asymmetrischer” Gewalt des Terrors, nicht die Gefahr von Bürgerkriegen.
Die Treiber von Gewalt-Macht-Lust in Politik und Religion, ihre medialen Schallverstärker sind deutlich erkennbar. Ihre Mitläufer formieren sich – dank neuer Kommunikationsformen – schneller als je. Werden sie sich aufhalten lassen? Wie? Das sind Fragen, die sich uns und nachfolgenden Generationen stellen. Die Zeit wird knapp.

Zensur im Kopf – Konformismus als Maos Geheimwaffe

Karikatur aus dem 19.Jahrhundert zeigt die "gute Presse".

Die Karikatur aus dem 19.Jahrhundert zeigt die „gute Presse“. Sie unterwirft sich in vorauseilendem Gehorsam der Zensur

Mag sein, dass der Journalismus den Tiefpunkt seiner Wertschätzung immer noch nicht erreicht hat. Dass er in die Krise geraten ist, verwundert nur Leute, die letzte Wahrheiten für wünschenswert halten und sich selbst im Besitz geeigneter Werkzeuge wähnen, zu letzten Wahrheiten vorzudringen. Sie hinken in ihrem Verständnis menschlicher Erkenntnisfähigkeit damit den Naturwissenschaften, der Physik insbesondere, um mehr als ein Jahrhundert hinterher. Ihnen fehlt jede Einsicht, dass Wahrnehmung jedenfalls subjektiv, eine vermeintliche Objektivität nur aus der Sicht einer – wie immer definierten – Gottheit zu gewinnen ist, die sich jeglicher Zugehörigkeit zu sozialen Abhängigkeiten entschlägt. Relativitätstheorie und Quantenphysik haben diesen Größenwahn eigentlich erledigt. Nietzsche lieferte mit seinem konsequent subjektivistischen Denkmodell “Gott ist tot!” einen nach wie vor beeindruckenden philosophischen Beitrag.

Wir leben leider in Zeiten, da Bildungssysteme solche Einsichten zugunsten der Behauptung ignorieren, dass über Wahrheit und Irrtum mit Mehrheit – etwa in Form von Quoten oder anderen rein quantitativen Erhebungen – entschieden werden könne. Das verschafft Wahnvorstellungen ältester Provenienz ein dauerhaftes Existenzrecht. “Wenn eine Idee die Massen ergreift, wird sie zur materiellen Gewalt”, konstatierte Marx, die Geschichte belegt, dass “Idee” durchaus wüste Wahnvorstellungen bedeuten kann. Wir erlebten die Konsequenzen in Formen des Totalitarismus von Gottes-Staaten, Kommunismus und Nationalsozialismus, wir erleben sie tagtäglich in den unausrottbaren Gefolgschaften religiösen, „linken“ und „rechten“ Fanatismus. Er hat überdauert, weil das Gefühl der Zugehörigkeit zur Macht der Masse jede qualifizierte Gegenwehr bis heute zu unterwerfen imstande ist.

Neben dem Totalitarismus sah Viktor Frankl, dem KZ entkommener Neurologe und Psychologe, Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, den Konformismus als ebenso wirkmächtige, womöglich größte Bedrohung der Freiheit an. Er fand Demokratie und Rechtsstaat durch konformes Verhalten gefährdet: Zu wollen, was die anderen tun, hindere den Menschen am sinnerfüllten Leben ebenso, wie zu tun, was die Totalitären wollen. Beide Richtungen beschäftigen heute jeden, der sich mit Verhalten und Verhältnissen in der Arbeitswelt auseinandersetzt: „Command and Control“, „Befehl und Gehorsam“ oder die „3-K-Methode“ – Kommandieren, Kontrollieren, Korrigieren – erweisen sich weithin als untauglich für den Wandel in der Informationsgesellschaft. Er verlangt selbständiges Denken und verantwortliches Handeln statt Unterordnung – und dass konformes Mitschwimmen im Soziotop nur eine Form von Subalternität ist, liegt eigentlich auf der Hand.

Wer den Alltag in modernen Redaktionsbüros von Massenmedien zwischen Peking, New York, Paris, Berlin, Mainz, Hamburg, Köln oder Baden-Baden erlebt hat, der weiß, dass eine von noch so guten Argumenten untermauerte Position chancenlos ist, falls sie von der totalitären Parteilinie abweicht oder vom konformistischen Mainstream – den auf Quoten und Verkaufszahlen orientierten Maßgaben des jeweiligen Mediums. Für Querköpfe und Abweichler bleiben Nischen – und die Hoffnung, dass es im Internet Freiräume gibt, die weder von Regierungen noch von mächtigen Konzernen oder NGO zugemauert werden können.

In China, Russland und den meisten islamischen Staaten werden diese Hoffnungen von technisch hochgerüsteten Kontrollinstanzen der Regierenden erbarmungslos zerstört. Die Medienkartelle des Westens dominieren vor allem dank konformistischer Gewöhnung ihres Publikums. Ein Spezialfall sind die Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Sie sind in Deutschland durch das System der Rundfunkbeiträge gegenüber der Konkurrenz im Markt privilegiert, andererseits durch Gremien an staatliche, kirchliche und andere Korporationen gebunden, also keineswegs politisch unabhängig. Wer dort angestellt oder als freier Produzent von Aufträgen abhängig ist, überlebt nur konform. Ausnahmen – gern zum Beweis für angebliche Treue zum grundgesetzlichen Auftrag unabhängiger Berichterstattung vorgeführt – bestätigen die Regel. Sie werden immer seltener.

Es bedarf keiner Zensur mehr, wenn die Schere im Kopf Voraussetzung zu einer Einstellung oder Vergabe eines Auftrages wird. Und da die Hochschulen des Landes in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Absolventen mit dem Berufswunsch “Was mit Medien” in die enger werdenden Märkte entlassen haben, ist der Konformitätsdruck insbesondere auf die Heerscharen prekär um Einkommen kämpfender Absolventen vor allem aus soziologischen, politologischen, pädagogischen und – in geringerem Maß – naturwissenschaftlichen Fächern mächtig. Wer ihm ausgesetzt ist, wird es als große Ermutigung empfinden, wenigstens moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Er wird nicht zögern, durch besonders engagiertes Auftreten, durch die vom Arbeitgeber gewünschte Haltung, seine Karriere im Gestell voranzutreiben – oder sich als Produzent langfristig Aufträge zu sichern.

Da sind wir. Und wir haben es – horribile dictu – mit einem Staat zu tun, der gar zu gern das Internet als Kontrollinstanz in Dienst nähme. Noch sind Überwachungsmaßnahmen nach chinesischem Muster hierzulande nicht eins zu eins umsetzbar, aber das “Netzwerkdurchsetzungsgesetz” zeigt, wie sich mit dem Kunstgriff eines Outsourcings staatlicher Überwachung an private Firmen und das Ertüchtigen staatlich finanzierter Gesinnungsprüfer wie der Amadeu-Antonio-Stiftung, geführt von einer ehemaligen Stasi-Zuträgerin, fast jede kontroverse Meinungsäußerung auffinden und unterdrücken lässt. Es bedarf keines chinesischen Systems von “Social Credits”, um Menschen nach dem Muster der Stasi zu “zersetzen”. Denunziationen in den social media, beim Arbeitgeber, bei Kunden wirken. Entsprechende Aktionen gutmeinender “Social Justice Warriors”, von Ministerien oder Parteistiftungen ertüchtigt, finden Verteidiger in regierungsnahen Medien. Mit dem Anspruch moralischer Unantastbarkeit im Namen geben “Antifa”-Helden gern auch dem Impuls “Gewalt Macht Lust” nach. Das nannte man zuzeiten “sozialistischen Humanismus”: Dem Klassenfeind gegenüber ist alles erlaubt, und wer Klassenfeind, gar Faschist ist, bestimmt im Besitz letzter Wahrheit und höherer Moral die Partei, die Partei, die immer Recht hat. Und jedem Totalitarismus gesellt sich massenhaft konformistisches Mitläufertum: Eine Kultur des Beschwichtigens und Wegsehens zum Erhalt eigenen Ein- und Fortkommens.

Kurt Tucholsky, einer der erfolgreichsten Journalisten des 20. Jahrhunderts, links, demokratisch, erklärter Feind der Nazis, verzweifelte daran, dass die Weimarer Republik zerbrach, weil die Parteien – fast alle Vorläufer heutiger Parteien – unfähig waren, den Nationalsozialismus mit überzeugenden Strategien abzuwehren. Kommunisten, wenn sie nicht zur NSDAP überliefen, bekämpften die SPD als “Sozialfaschisten”, die Deutschnationale Volkspartei paktierte mit Hitler. Manche Bürgerlichen sahen ihn als geringeres Übel. Alle wollten die Macht, wenige blickten weit voraus, wie es Journalisten vom Rang eines Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Maximilian Harden, Karl Kraus,… getan hatten.

In der Sowjetischen Besatzungszone setzten sich nach 1945 Konformisten der SPD-Führung durch, wurden von Ulbricht, Pieck & Co. mit der KPD zwangsvereinigt, in der stalinistischen SED minorisiert. Reste bürgerlicher Parteien – die „Liberalen“ der LDPD, „Nationaldemokraten“ der NDPD opponierten gegen SED-Politik sowenig wie  CDU oder Bauernpartei. Zusammen mit Massenorganisationen, denen fast jeder DDR-Bürger angehörte, waren sie Transmissionsriemen des totalitären Regimes, als „Blockparteien“ durften sie im „antifaschistischen“ Deutschland ein Scheinparlament aufführen. Der Volksmund – heute bezeichnete man das wohl als „populistisch“ oder gar „Hatespeech“ – nannte sie Blockflöten. Kultur und Medien wurden immer wieder einmal hart, nicht selten mit Hilfe von Stasi und Gesinnungsjustiz, auf Linie gebracht. Oppositionelle flohen nach Westen.

„Fehlen uns heute Köpfe wie Tucholsky, da sie doch angesichts der tiefen Spaltung des Landes wieder gebraucht würden?“ fragte mich eine Besucherin unserer Literaturreihe „Leben Lesen“. „Wenn ja: Woran ließen sie sich erkennen? Und richteten sie etwas aus?“

Ich weiß es nicht. Wenn es sie gibt, beweisen sie sich an denselben zwei Kriterien wie vertrauenswürdige Politiker: Sie wähnen sich nicht totalitär im Besitz der Wahrheit und preisen ihrem Publikum – oder ihren Wählern – weder Patentlösungen an, noch geben sie ihnen die Linie vor. Sie verschweigen oder beschönigen eigene Fehler nicht, erstreben also nicht, dass man ihnen alternativlos zu folgen habe. Und: Sie reden nicht konformistisch denen nach dem Munde, die massenhaften Zulauf und Teilhabe an der Macht versprechen.

Das freilich ist eine seltene Spezies. Aber es gibt sie. Sie entlassen den mündigen Bürger nicht aus der Verantwortung. Sie machen ihm nur Mut, an der richtigen Stelle Nein zu sagen: Wenn er tun soll, was die anderen wollen, oder wenn er wollen muss, was die anderen tun. Sie begleiten ihn, wenn er vor der Frage nach Sinn steht – ohne Antworten zu geben, geschweige „alternativlose“ letzte Wahrheiten im Namen höherer Moral zu verkaufen. Sie sind noch da. Sie werden angegriffen von Totalitären und Konformisten. Sie sind noch nicht emigriert. Ob sie etwas ausrichten können, ist die Frage, an der sogar ein Tucholsky verzweifelte.

Wendehälse im Gestell

KosmosTitel

Was treibt einzelne Menschen – und wohin treiben Staat und Gesellschaft?

„Die Erschaffung des An-Gestellten“ ist ein besonders wichtiges Kapitel in „Der menschliche Kosmos“. Es handelt u.a. davon, weshalb Bürokratien ungehemmt wuchern, Unternehmen von Managern, Staaten von Regierungen in schwere Krisen gesteuert werden –  und am Ende fast nie Verantwortliche dingfest zu machen sind.
Angestellter ist ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsaufgaben überwiegend aus geistiger Arbeit bestehen.“, sagt die Wikipedia. Die Unterschiede zu Arbeitern verschwinden indessen mit fortschreitender Automatisierung, die zu Beamten bestehen in deren besonderer Bindung an den Staat, weniger in ihren Funktionen innerhalb der Organisation. Ich verwende den Begriff hier für „abhängig Beschäftigte“ in allgemeinerem Sinn.

Angestellt zu sein ist in den entwickelten Industrieländern fast zur einzig möglichen Lebensform geworden. Es gilt als Katastrophe, seine Anstellung zu verlieren und „arbeitslos“ zu werden. Das ist eine verräterische Ausdrucksweise, die „Arbeit“ mit „Anstellung“ gleichsetzt und das Leben außerhalb der Anstellung abwertet − als ob man nicht auch als Selbständiger oder einfach als Hausfrau und Mutter vollwertig arbeiten könnte.
Das System, Einkommen als Angestellter zu erwerben – nennen wir es mit Martin Heidegger einfach „das Gestell“ – sichert großen Massen von Menschen die Existenz, es strukturiert fast allgegenwärtig die Arbeitswelt und fast jede Arbeitsorganisation setzt auf dem Gestell auf. Wer an-Gestell-t ist, muss Unwetter und Missernten kaum noch fürchten, auch nicht, dass er als selbständiger Handwerker mit seiner Werkstatt wegen neuer Produktionsverfahren Pleite geht. Er verfügt über relativ sicheres Einkommen, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung (die eigentlich eine Versicherung gegen das Nicht-angestellt-Sein ist), kurz: er hat mehr gegen all die vielen Existenzängste und für die Sicherheit getan als irgendeiner der in Jahrtausenden verblichenen Vorfahren.
Am Ende bleibt eigentlich nur eine – neue – Angst: aus dem Gestell herauszufallen.
So wie der Günstling des Königs dessen Zorn muss der Angestellte fürchten, gegen die Maßgaben seiner Firma, gegen die ihm zugewiesenen Rolle in der Hierarchie – im Gestell – zu verstoßen. Das Schicksal eines einzelnen Unternehmens braucht ihm dabei nur so lange wichtig zu sein, als ihm seine Dienste hinreichend vergolten werden und nicht ein komfortablerer Platz in einem anderen Unternehmen, einer Behörde oder sonst einer Organisation winkt.
Der schnelle Zusammenbruch der DDR 1989 und die unaufhaltsame deutsche Vereinigung unter den „Wir sind ein Volk“ – Rufen der Bevölkerung des hinfälligen „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ haben weniger mit nationaler Sehnsucht – umso mehr mit der Tatsache zu tun, dass die DDR ein fast perfektes Gestell war. Spätestens 1972 waren im Osten Deutschlands die Unternehmer als soziale Schicht eliminiert. Freiberufler waren fast bedeutungslos. Im „real existierenden Sozialismus“ (zu diesem Begriff wird später noch einiges zu sagen sein) gab es praktisch nur Angestellte. Deren Loyalität gegenüber dem Großkonzern DDR mit seinen vielen Tochterunternehmen – den Kombinaten der Industrie, den Produktionsgenossenschaften in Handwerk und Landwirtschaft, den Heerscharen von Behördenangestellten – war durch nichts leichter und zugleich nachhaltiger zu erschüttern, als durch die Aussicht auf viel bessere Anstellungsverhältnisse in den Unternehmen und Organisationen des Westens. Deren marktwirtschaftlicher Erfolg erschien via Werbefernsehen und Intershop zum Greifen nah und zugleich unerreichbar fern.
Tatsächlich trägt die deutsche Vereinigung Züge der „feindlichen Übernahme“ eines bankrotten Unternehmens durch einen starken Konkurrenten. Besonders deutlich wird das im jahrelangen, von Korruption, Schiebungen, Erpressungen begleiteten Agieren der „Treuhandanstalt“.

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Treueschwüre sind befristet – der Opportunismus nicht

Und nicht zuletzt die „Staatsdiener“ in Polizei, Armee und Verwaltung verhielten sich in der Mehrheit vollkommen anpassungsbereit gegenüber einer Gesellschaft, die ihrer alten Unternehmensführung als schlimmster Feind galt, als „Klassenfeind“ – in der quasireligiösen Ideologie der totalitären Parteien also als der Teufel. Das schmälerte selbst bei hohen Offizieren, die bis zum Herbst 1989 glaubwürdig ihre Bereitschaft zum Atomschlag gegen den Klassenfeind bekundeten, nicht die selbstgewisse Bereitschaft, sich bei Militär, Polizei oder Geheimdienst der fusionierten Deutschland AG – eben des Teufels – anstellen zu lassen.
Solchen Figuren – stramm linientreu, bereit, Nachbarn und Kollegen anzuschwärzen, auszubooten, bei Partei und Stasi zu denunzieren, wenn es der eigenen Karriere nützte, nach der politischen „Wende“ servil gegenüber der ehemaligen „Konkurrenz“ – verlieh der Volksmund den Namen „Wendehals“, was ungerecht gegenüber dem netten Vogel ist. Der Erfolg gab vielen Recht.

Vom Glück, nicht beachtet zu werden

Pieter Brueghel "Superbia" - der Hochmut

Pieter Brueghel „Superbia“ – der Hochmut, eine der Todsünden, kommt bekanntlich vor dem Fall

Der mechanische Wahn, der alles quantifiziert und sich die Welt zurecht-rechnet, zurecht-modelliert mittels digital inflationierter Statistik, ebnet den Unterschied, also die Qualität, im Dienste von Geldmaschinen oder politschen Superdominanzen – schlimmstenfalls im totalitären Staat – ein. Die Superdominanzen in seiner Gefolgschaft schillern inzwischen in allen ideologischen Tarnfarben – alle erweisen sich als zwiegeschlechtliche Frucht von Kapital und Religion oder Machtgier und Bigotterie oder … denk er sich jede moderne Verbindung jeder Sorte religiösen Irrsinns mit Habgier, Herrschsucht, Rachegelüsten, Schadenfreude etc. hinzu. Dem nicht als – mehr oder weniger williger – Gehherda ausgeliefert zu sein, ist höchstes Glück und köstlicher Tanz auf dem Ereignishorizont.

So weit, so gut. Mir hat es nichts ausgemacht, dass meine Bücher und Weblogs wenig beachtet wurden. Für mich waren sie der Garten, den ich zum Ende meines Lebens hin mit mir gefälligen Blüten bepflanzen wollte, öffentlich zugänglich, allfälligen Besuchern zum Vergnügen. Kritiker mit guten Ideen, wie manches zu beschneiden, zu erneuern wäre, sind darin willkommen. Der Wettkampf von Konzernen und Politbürokraten um die Weltherrschaft wollte es, dass die EU-Administration diese Art individueller Gärtnerei Regeln unterwerfen zu müssen meint, die Aufmerksamkeits-Monster wie Google, Microsoft, Amazon, Facebook etc. im Gebrauch von Nutzerdaten zügelt.

Es war zu lesen, dass Google 500 Mannjahre aufwenden musste, um den Anforderungen der DSGVO nachzukommen. Ein Blick auf die Dienste, die sich unterm Dach dieses Giganten sammeln, die dort auf komplexe Weise vernetzt sind, die einer wie ich gern gratis schon aus Neugier nutzt, lässt einen ahnen, welches Ausmaß solche Regelungswut erreicht. Und ich habe keine Ahnung, inwiefern ich womöglich durch ein dort gehostetes Weblog gegen irgendeine der mir kaum verständlichen Auflagen verstoße, was rührigen Fachleuten dank von schlauen Algorithmen geleisteter digitaler Nachforschungen gestattet, mich kostenpflichtig abzumahnen.

Vorsorglich habe ich also meine Weblogs bei blogger.com entöffentlicht – leider auch „kosmosmensch.blogspot. com“, wo ich gratis Texte und deren Überarbeitung zu meinem Buch „Der menschliche Kosmos“ zehn Jahre lang zugänglich machte.

An dieser Stelle sei ausdrücklich der Anwaltskanzlei Dr. Thomas Schwenke gedankt, die Bloggern wie mir einen Generator für die DSGVO-konforme Datenschutzerklärung online an die Hand gab: Bei WordPress.com gehostete Webauftritte können hoffentlich auf diese Weise weiterhin Teil des demokratischen Meinungsspektrums bleiben, ohne denunziert und von Profiteuren des Abmahngeschäfts zum Aufgeben gezwungen zu werden. In derlei juristischen Konstellationen bleibt einer freilich – wie auf hoher See – des Geschickes Mächten ausgeliefert. Sei’s drum: Der Schiffbruch ist seit je Lebensrisiko.