Feminismus – wer gewinnt?

Die Venus von Botticelli

Boticellis Venus – wie sexistisch sind Gemälde der Renaissance?

Ein Handlungsstrang des Romans befasst sich mit Silvia, einer in der DDR aufgewachsenen Künstlerin. 20 Jahre nach dem Untergang des SED-Staates sucht sie ein selbständiges Leben: frei und von Zensur unbehelligt. Findet sie Verbündete? Kann sie sich behaupten – oder muss sie sich an Organisationen, Verbände, Sponsoren binden? Welche Rolle werden Männer dabei spielen?

Sieben Jahre sind es, seit der „Raketenschirm“ entstand. „Gender-Mainstreaming“ ist Teil der Politbürokratie. Zeit, über Feminismus und Macht neu nachzudenken.

Die Fotoausstellung ist ein Erfolg, aber das genügt nicht. Es muss viel mehr herauskommen als knapp drei Minuten Interview in einem Magazin von RTL 2 über Schönheitsoperationen im Genitalbereich, es hätten sich die Vertreter aller Medien einfinden sollen, die der bunten Zeitschriften, die vom Boulevard – freilich, viel lieber noch die von „Psychologie heute“, vom „Spiegel“, vom „Stern“; am liebsten wäre sie mit einem „Geo“-Reporter samt Fernsehteam nach Afrika gereist, um eine Reportage über den Kampf gegen die Genitalverstümmelung zu produzieren, ergreifender, beredsamer, bilder- und spannungsreicher als alles, was zum Thema je publiziert worden ist. Stattdessen meldet sich nicht einmal die „Emma“.

Dabei ist sie vollkommen sicher: das Thema „Weibliche Genitalien“ ist ein ganz großes, größer noch ist die Unwissenheit darüber, die der Frauen zumal, denn immer mehr von ihnen rasieren nicht nur die Schamhaare, sondern lassen sich die kleinen Labien von Chirurgen zurechtstutzen, die Vagina verengen, einige, um männlichen Wünschen, die meisten, um der eigenen Vorstellung zu genügen, was sie begehrenswert, was sie in der Welt des Begehrens unwiderstehlich machen kann. Sie haben zahllose Vorbilder. Jeden Tag können sie erfahren, was zählt, wenn die Zahlen an Geburtstagen schmerzhaft vorrücken, was sie tun müssen, dem Verfall des Weiblichen entgegenzuwirken, auch, was es kostet. Zahlen sind Qualen. Aber dank der Medien können sie sich vergewissern , mit dieser Qual nicht allein zu sein, können gar Hilfe finden, ohne sich Sport und anderen Zumutungen unterwerfen zu müssen. Die Sucht, sich selbst zu vervollkommnen, grassiert. Hatten die Medien schon immer alle Märkte vorangetrieben – für jegliche wahnhafte Begierde – so treibt nun das Internet den Markt vervollkommneter Weiblichkeit vor allen anderen: Direkte Links führen zu Pillen, Kuren, Kliniken. Die Schönheitschirurgen, die ihnen zu Dumpingpreisen nacheifernden Quacksalber modellieren fremde, vergolden sich die eigenen Nasen.

Silvia, die rothaarige Leipzigerin Mitte Fünfzig, kinderlos, verwitwet, zweimal geschieden, kann einfach nicht verstehen, wieso angesichts dieser bedrohlichen Tendenz zur Selbstverstümmelung ihre Botschaft von der Schönheit und Perfektion des naturbelassenen weiblichen Genitals im Internet ungehört verhallt, auch beim Fernsehen. Sie hat Zuspruch erfahren von vielen Seiten; eine Nichte breitete auf eigenen Wunsch als photographisches Pendant zu einem schillernden Falter die kleinen Schamlippen wie Schmetterlingsflügel aus. Die Fotos sind allesamt großartig, auch die Texte. Silvia hat fernöstliche Kulturen zu Zeugen berufen, dazu die medizinische Wissenschaft, sie hat fast alles getan, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dass selbst Alice Schwarzer nicht ihre Impulse aufnimmt, schreibt sie deren Neid, dem Alleinvertretungsanspruch weiblicher Interessen zu. Einzig ein popliger TV-Produzent aus Sachsen-Anhalt bietet an, ein Video für ihre Homepage zu produzieren und in Stendal eine Podiumsdiskussion zu verfilmen. Dabei ist nicht einmal Geld zu verdienen, sie hat abgelehnt. Eine der großen Anstalten müsste finanziellen Rückhalt bieten, das Marketing muss der „Mission Vulva“ angemessen sein.

Sie wird weiter recherchieren müssen im Internet, in den Communities, sich profilieren bei facebook, MySpace, XING, linkedin, twitter und wie die Plattformen heißen, die Erfolg versprechen bei der Suche nach den erfolgversprechenden Kontakten, sie wird ein Auge haben müssen auf die Konkurrenz, sie ist nicht die Einzige, die ans Potential des Themas glaubt; Schwestern sind unterwegs, finden Beachtung mit Büchern, werden interviewt, tauchen in Talkshows auf. Letztlich hängt alles an persönlichen Beziehungen. So war es immer, so wird es bleiben, niemand weiß das besser als sie.

Internetwirtschaft macht reich

Die Vorhersagen im „Raketenschirm“ von Anfang der 2010er Jahre erweisen sich als zuverlässig: Jeder Konzern, der seine Produkte über das Vertrauen in Marken verkauft, muss fürchten, von einer “Wir sind die Guten”-Community als profitgieriger Verteiler giftiger (mindestens gesundheits- oder umweltschädlicher) Ware markiert und ausgeschrien zu werden. So treffen wir auf eine seit alters her verlässliche Methode, sich Vorteile – in Form von Geld, gern als Ausbeute öffentlicher Aufmerksamkeit – zu verschaffen: DAS GERÜCHT. Es kann Einzelnen mit Unterstützung einer Community sehr, sehr viel Aufmerksamkeit und Geld bringen, wenn der Konzern um die Zugkraft seiner Marke fürchten muss. Das Kapitel 10 zeigt, wie’s gehen kann – Ähnlichkeiten mit aktuellen Kampagnen sind rein zufällig – falls nicht deren Initiatoren sich vom “Raketenschirm” inspirieren ließen

HWODer Schnauzbart irritiert sie, die runde Brille erinnert an historische Vorbilder aus den Jahren der Oktoberrevolution, der Anzug am fülligen, dennoch fest und sportlich trainiert wirkenden Leib stammt von einer Nobelmarke, unterm Doppelkinn ist der Kragen offen, keine Krawatte, ein Dreitagebart, kahle Stellen im grauschwarzen Stoppelhaar: Als sich Hermann Hofrichter zu Silvia an den Tisch setzt, mit „Freundschaft“ grüßt, grinst, wirkt er entspannt und locker. Er muss bald 65 sein.

„Du siehst nicht aus wie ein Rentner“, sagt seine Halbschwester. (…)

Hermann nickt versonnen: „Das Tolle an diesem Land: es lässt seine Spinner nicht verhungern. Mal sehen, wie lange ’s noch funktioniert.“ Silvia ahnt, dass jetzt der Katechismus folgt. Hermann fasst nach einer schmalen Mappe, holt ein Notepad heraus, macht ein paar Fingergesten. „Die Spinner haben sogar genug Geld, es in die Revolution zu investieren. Schau mal: das ist in den letzten drei Tagen hereingekommen.“ Er hält ihr den glänzenden Bildschirm hin. Sie überfliegt Tabellen, eine Grafik. „Möchtest du nicht auch spenden? ,Heal the World, Make It A Better Place … For You and For Me … And the Entire Human Race’ …“, summt er.

„Wusste nicht, dass du singen kannst. Was macht ihr mit diesem riesigen Haufen Geld? Möchtest du nicht etwas davon in eine Kulturstiftung für – sagen wir: meine Mösengalerie – stecken?“

„Klar.“ Hermann beobachtet Silvias Reaktion. „Nur nicht sofort. Schau – es ist so: Wir haben dir geholfen, jetzt könntest du für uns etwas tun. Dein Ziel, den Mädchen und Frauen dieser Welt Beschneidungen, Zwangsehen, Sklavenhandel und so weiter zu ersparen, ist auch eines der Ziele unserer NGO, eines nur, aber die anderen werden dir auch gefallen.“

„Du redest jetzt nicht vom ‚Leninistischen Aufbruch‘?“ Silvia ist platt.

„Ach was. Solche kindischen Etiketten kleben sich nur Schwachköpfe und verkalkte Veteranen des Kalten Krieges an. Im Zeitalter des Internets verlaufen Revolutionen vollkommen anders – oder hast du den ‚Arabischen Frühling‘ verschlafen?“

„Natürlich nicht, und ich bin besonders gespannt darauf, wie er sich auf die Lage der Frauen auswirken wird.“

„Siehst du. Frauensolidarität bleibt wichtig. Wir haben sehr renommierte Aktivistinnen, die einschlägige Foren betreuen, neue Kräfte gewinnen, starke Argumente – vor allem Bilder – beisteuern. Die Welt muss sich ändern, Nachhaltigkeit, Klimawandel, soziale Gerechtigkeit … du weißt schon. (…) Es muss niemand mehr auf die Straße gehen, sich als fahnenschwenkender Märtyrer niederschießen lassen, wenn er eine Chemiefabrik kaputtmachen, einen Banker zum Kniefall bringen will. Informationen über eine verseuchte Landschaft, einige Dutzend betrogene Anleger reichen: Sie müssen nur groß genug sein für Nachrichten in den Leitmedien, eine große Zahl von Menschen dazu bringen, sich uns anzuschließen: Dominanz in den Medien ist das neue Kapital, und das Internet ist die Methode der Akkumulation. Wir sind die Guten, wer zu uns gehört, gehört an die Macht.“

„Und wie nennt sich das Ganze? Nicht mehr Kommunistische Partei?“

„Tu nie alle Eier in einen Korb. Auch Utopisten, Grüne, Tierschützer, jede Sorte sozialistischer Bewegungen konkurrieren in dieser Welt. Sogar Religionen.“ Hermann bläst einen verächtlichen Lacher durch die Nase. „Die Kunst besteht darin, ständig neue Netze zu knüpfen, den Leuten die Überzeugung zu vermitteln, dass sie auf der richtigen Seite stehen, zur ‚Heal-the-World‘-Bewegung gehören, die Kunst ist, dabei als Bewegung so groß wie irgend möglich zu werden. Und natürlich das Geld dafür einzusammeln.“

„Bei den Spinnern.“

„Und bei denen mit schlechtem Gewissen, bei denen im Hintergrund, im Dunkeln wenn ’s sein muss …“

„Erpressung.“

„Quatsch. Wiedergutmachung. Wenn du die Moralinsäure weglässt, kriegst du vielleicht endlich eine Mahlzeit hin, die überall auf der Welt gegessen wird. Oder möchtest du auf eine große Kosmetikfirma als Sponsor für deine Muschibildchen verzichten?“

„Der Kommunist rettet die Frauen der Welt mit L’Orèal – oder isses Beiersdorf?“

Der Kapitalismus hat sich mit dem Kommunismus seinen Totengräber erschaffen. Die Form der Bestattung konnte Marx nicht vorhersehen. Du und Deine Mutter – ihr passt besser an die Spitze als zum Fußvolk. Das wollte ich dir gesagt haben, deshalb habe ich nicht gezögert, für dich etwas digitalen Dreck wegzuputzen. Niemand zwingt dich zu einer Entscheidung. Achte einfach mal im Internet genauer darauf, wohin der Wind weht und in welche Richtung die Massen sich bewegen. Wo vorn ist, sind wir.

Silvia lacht ein wenig gezwungen: „Sagst du deshalb nicht mehr ‚bljatj‘?“

Ich trinke auch keinen Wodka mehr.“

Aber wenn du mich und Meinesgleichen einlädst – womöglich schubsen wir Frauen dich weg von der Spitze.“

Nur zu. Ich konnte schon früher – anders als du und dein schneidiger Genosse Leutnant Lampert – mein Ego zügeln, habe gelernt, in den hinteren Reihen treu zu dienen. Zahlen!“ Hermann legt einen großen Schein auf den Tisch und wendet sich zum Gehen, ohne auf Wechselgeld zu warten.