Überleben: Nazis, Stasis und wir

Die Spuren der Vergangenheit führen Gustav in lichtlose Verliese, wo die Gespenster lauern. Natürlich sind sie genauso real wie die von Millionen an Millionen begangenen Diebstähle, Einbrüche, Erpressungen, Nötigungen, Überfälle, Vergewaltigungen, Morde, wie Bestechungen, Drohungen, Folter, Betrug und Verrat eines jeden Tages, der da wird auf Gottes Erdboden. Die Verbrechen hausen unaustilgbar als Gespenster in den virtuellen Räumen der Erzählungen, Filme, Computerspiele, in Gemälden, Tönen, Träumen. Sie geilen sich aneinander auf, kopulieren, werden gezeugt als Vorstellung, Wunsch, Wille, geboren als neue Gewalt.

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Gebäude der ehemaligen Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Suhl, genannt “Die Burg”

Der Mensch ist nicht gut. Er ist zum Guten fähig und zum Schlimmsten. Wohin die Kugel rollt, ist unbestimmbar. Es ist Quantenphysik. Gustav kann nicht herausfinden, wer die Kugel von Gabriele Fürbringer Richtung Zuchthaus Hoheneck stieß. Die Figuren, von denen sie dort misshandelt wurde, haben keine Gesichter.

Die Mehrheit will von solchen Gespenstern ohnehin lieber nichts wissen, erst recht nicht, wenn sie nebenan hausen, in Behörden oder hinterm Schreibtisch eines Vorgesetzten. „Ein unauffälliger, netter Nachbar“ ist das, “der freundliche Herr Doktor”, „ein bei allen beliebter Kollege“. Und wer will schließlich gar die eigenen Züge an einem der Dämonen wiedererkennen, die sich als Verbreiter übler Nachrede, Spitzel, Zuträger, Wächter, Buchhalter um den Erhalt des Unrechts, um Gefängnis, Folter, Mord verdient gemacht haben?

Wer will sich für eigene Fehlbarkeit verantwortlich fühlen müssen, hinnehmen, dass er Schaden, Leid und Schmerzen verursacht hat, da er sich doch in den Schutz, in die Deckung einer Korporation flüchten kann, wo Verantwortung abgenommen, delegiert wird, an eine Gemeinschaft übergeht, die von keinem Menschen mehr in Haftung zu nehmen ist? Dort finden sich Rechtfertigungen und Ausreden als Uniform: „Man konnte doch nicht anders.“ „Befehlsnotstand“. „Gruppenzwang“. „Wenn ich’s nicht getan hätte, hätte ’s ein anderer getan“.

Aber die Welt, in der “es ein anderer getan hat” gibt es nicht. Diese Welt ist eine Fiktion zum Selbstbetrug. Es gibt nur die Welt, in der du entweder die Maske der Macht anlegst, wenn sie dir angeboten wird, und “es tust”,  oder in der du Nein! zur Maske sagst und Ja! – dir selbst ins Gesicht. 

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Der Beton der “Burg” stammt aus den 70er Jahren, die älteren Gebäudeteile haben eine Nazi-Vorgeschichte

“Masken der Macht …

… Gesichter der Ohnmacht” heißt ein Workshop, in dem das untergegangene System und der in Vergessenheit geratene Alltag der DDR zu erleben ist – für alle, die im Westen aus sicherer Entfernung zusahen, für alle die zu jung sind für eigene Erfahrungen mit SED und Stasi, mit Schulen, Arbeitswelt, Karrieren und Konflikten des Ostens.

Die meisten können sich nicht vorstellen, dass Ärzte, dass Krankenschwestern nicht mehr den elementaren Verpflichtungen ihres Berufsstandes folgen und Patienten als hilfsbedürftige Menschen behandeln.  Sie können sich nicht vorstellen, dass Ziel einer Behandlung nicht Heilung ist, sondern nur und ausschließlich die Fortsetzung von Verhören, der Erfolg von Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit “im Dienste der Arbeiter- und Bauernmacht” gegen vermeintliche Staatsfeinde, deren einziges Vergehen meist darin bestand, dass sie nicht länger DDR-Bürger sein mochten, dass sie der Heilslehre der Kommunisten nicht folgten.

Der Workshop verschafft jedem, der sich darauf einlässt, einen Eindruck davon, wie aus Menschen nummerierte Objekte, wie aus Angestellten Folterknechte, wie aus Therapien Verhörmethoden werden.

Im November ist ein Buch erschienen, das historische Fakten dazu aufarbeitet.

Peter Erler und Tobias Voigt haben die Geschichte des Stasi-Haftkrankenhauses in Berlin-Hohenschönhausen untersucht. Sie zeigen eindringlich, wie aus Ärzten Hilfskräfte psychischer und physischer Folter werden, wie Mediziner aus Karrieregründen den Hippokratischen Eid brechen, Psychologen helfen, den seelischen Widerstand von Gefangenen zu zerstören, Krankenschwestern mittels kollektivem Druck dazu gebracht werden, jegliche Regung von Mitleid zu blockieren. Sie alle legen die Masken der Macht an, sie treten den Leidenden als anonyme Vollstrecker eines Machtwillens gegenüber, der jeden Widerstand ersticken soll, der den Gedemütigten die medizinische Behandlung als gnadenhalber verabreichte Notration für sozial Geächtete erscheinen lässt.

Die Autoren haben genau recherchiert; sie lassen Menschen zu Wort kommen, die unheilbar verletzt sind an Leib und Seele. Jeder Einzelne hätte verdient, gehört zu werden – stattdessen dröhnen in den Medien, subkutan begleitet durch unterhaltenden Ostalgiekitsch,  die Schwadroneure des Sozialismus: als sei nicht das rechte und linke Handwerk der Menschenverachtung in diesen Krankenstationen zwischen Hohenschönhausen, Workuta, Sachsenhausen, Santiago de Chile, ein für alle Male in Beton, Stacheldraht, Überwachungs- und Zersetzungstechnik verewigt.

Die Täter, Täterinnen schweigen – bis auf wenige. Sie wollen gesichtslos bleiben, sie wollen die Masken der Macht nicht abstreifen. Sie dürfen sich leider darauf verlassen, dass ihre Rechte mehr zählen als das Anrecht der Opfer auf Offenbarung, auf Reue, auf einen sozial heilsamen Kniefall. Wer Reue verweigert, ohne Gesicht leben will, den schützt der Rechtsstaat. In den Kulturen Asiens ist Leben mit verlorenem Gesicht eine furchtbare Strafe.

“Medizin hinter Gittern” ist mehr als ein Bericht über dem Missbrauch medizinischer Kompetenz durch den SED-Staat. Das Buch fragt eindringlich – nicht nur Ärzte – wohin sich unsere Aufmerksamkeit richtet: auf die Gesichter der Ohnmacht oder auf die Masken der Macht.