Unten ohne auf dem Sprung

Gregor Gysi Präsident der Europäischen Linken

Ja, die „gesellschaftlichen Zwänge“, möchte einer ausrufen und dem Genossen Gysi in diesem Falle verständnisvoll zunicken. Wer sich Tag für Tag als Kader im Anzug mit Schlips bewegen, die Rituale des Apparates befolgen, Konferenzstühle drücken oder gar in Uniform und militärisch strammer Haltung Wutausbrüche seines Vorgesetzten ertragen muss, kann sich innerlich aufrichten, sobald er sich den Hauptabteilungsleiter, Oberst, gar Genossen Minister nackt vorstellt.

Einem von ihnen unbekleidet gegenüberzustehen war in der DDR durchaus möglich, denn nirgendwo sonst auf der Welt war „Freikörperkultur“ – FKK – landesweit so verbreitet, massenhaft beliebt und selbst außerhalb von Saunen, Kleingärten, Stränden anzutreffen, wie im „sozialistischen Staat deutscher Nation“. So beschrieb Artikel 1 der Verfassung 1968 – noch zu Zeiten von Walter Ulbricht – das Herrschaftsgebiet der SED. Nach seinem Sturz durch Honecker verschwand die deutsche Nation endgültig aus dem Sprachgebrauch: 1974 aus der Verfassung, danach so weitgehend, dass der Volksmund spekulierte, ab wann auch der deutsche Schäferhund zum „Schäferhund der DDR“ erhoben würde. Artikel 1 enthielt stattdessen den „Staat der Arbeiter und Bauern“, aber natürlich blieb „die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ so unangetastet wie Berlin als Hauptstadt und die gesellschaftlichen Zwänge. Sie hießen nicht so, aber etliche Kilometer Stasiakten bezeugen sie. Ich auch.

In der DDR liefen Deutsche Schäferhunde als Grenzwächter im Todesstreifen am Seil. Im Grenzmuseum Mödlareuth ist das zu besichtigen. Natürlich ohne Hunde – wegen des Tierschutzes

Aus ihnen auszubrechen verhinderte ein weltweit bekanntes Bauwerk in Berlin, dazu mit Minen, Stacheldraht, Wachttürmen, Hunden (meist Schäferhunden) und Patrouillen gesicherte 1400 km lange Grenzanlagen und eine wohlorganisierte Gesinnungskontrolle in fast allen Lebensbereichen, einschließlich Urlaub im gewerkschaftseigenen Ferienheim, auf dem Zeltplatz oder im sozialistischen Ausland. Betriebe und andere Einrichtungen schmückten sich mit einem Schild „Bereich der vorbildlichen Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin“. Ich erinnere mich, so ein Schild an einem Kinderferienlager gesehen zu haben, aber ich bin nicht sicher, vielleicht war’s auch eine Herberge.

„Sicherheit“ galt alles in der DDR. Seltsamerweise gehören zu den Stützpfeilern einer jeglichen Konstruktion des Musters „Es war nicht alles schlecht!“ neben Medaillenrängen im Sport, sicheren Arbeits- und Kitaplätzen, kostenlosen Brillen und Zahnersatz auch die Nacktbadestrände. Nicht nur Arbeiter und Bauern, alle Schichten der Werktätigen in Stadt und Land gaben sich genussvoll Sonne, Wind und Wasser hin: splitterfasernackt, befreit von Bekleidungsvorschriften, Rangordnung, ökonomischen und informellen Insignien der Macht. Zugleich fielen „Spanner“ – vor allem die mit Badehose – nicht selten lautstarker Verachtung anheim. Sie sollten sich schämen, Hose runter, Ordnung muss sein!

Neben den ordentlich ausgeschilderten Oasen zwischen Ostseedünen, gab es auch die wilden an Kiesseen, wo das Baden verboten war, in entlegenen Ecken von Freibädern, Parks und Sportplätzen. Viele von ihnen wurden in den 80er Jahren – auf dem Höhepunkt der Bewegung – legalisiert. Dieser Höhepunkt korrelierte zeitlich mit dem Höhepunkt der Ausreisebewegung: Hunderttausende DDR-Bürger wollten heraus aus Mangelwirtschaft und Bevormundung. Der KSZE-Prozess und internationale Verträge hatten zwar der DDR die staatliche Anerkennung gebracht, ihr aber auch politische Kompromisse abgezwungen, obendrein die ökonomische Krise, vor allem Devisenknappheit und hohe Schulden verschärft.

Mitte der 70er Jahre waren mutige Ausreiseantragsteller von der Stasi noch mit schweren Schikanen drangsaliert worden, Entlassung, Verhaftung, Misshandlungen inklusive. Wer es wagte, sich als solcher etwa mit einem weißen Bändchen an der Autoantenne zu bekennen oder zu solidarisieren, kassierte ebenso schwere Strafen. Aus Gruppen – etwa einer Stammtischrunde – wurde ein „operativer Vorgang“, sobald Mielkes Truppe Oppositionelle witterte. Dann saß alsbald mindestens ein Spitzel in der Runde. Trotzdem ermutigte jede erfolgreiche Übersiedlung in den Westen immer mehr neue Gesuche.

Wen die Stasi einem "operativen Vorgang" zuordnete, den durften ihre Leute "zersetzen"
Wen die Stasi einem „operativen Vorgang“ zuordnete, den durften ihre Leute „zersetzen“

Ab 1985 nahm kaum noch jemand ein Blatt vor den Mund, wenn er über Bittgänge zu „Inneres“ – also zu der bei kommunalen Behörden für seinen Antrag zuständigen Abteilung – redete. Dort saßen ihm Stasis gegenüber, ebenso am Stammtisch, womöglich mittags in der Kantine. Wenn er sehr unbesorgt lebte, landete schon mal eine Freundin bei ihm im Bett, deren Unterschrift unter die Verpflichtungserklärung als IM noch nicht ganz trocken war. Aber damit musste einer immer rechnen; war er am Ende mit allen Träumen, mochte er auch in der zartesten Umarmung nicht säumen.

Besonders bizarr fand ich einen „Hotspot“, Treffpunkt Ausreisewilliger auf einer Rasenfläche an der Dimitroffstraße (heute Danziger Straße), direkt an der Rückseite des berühmten „SEZ“, eines der absoluten Glanzstücke von Erich Honeckers „Sondervorhaben der Hauptstadt Berlin“. Das „Sport und Erholungszentrum“ war von einem schwedischen Architektenteam entworfen, mit enormem Aufwand an der Kreuzung mit der Leninallee (heute Landsberger Allee) gebaut, 1981 eröffnet worden und seinerzeit das weltweit größte seiner Art. Es lohnt sich, einen Bericht des DDR-Fernsehens anzusehen, der vom Deutschen Rundfunkarchiv bei YouTube eingestellt wurde.

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Gefährliche Spiele

Als Gabi ihre Tochter zum ersten Mal mit einer tanzenden Untertasse erwischte, nahm sie es von der heiteren Seite. Dass spielende Kinder Gegenstände zweckentfremdeten, war normal. Es war also auch normal, einen Teller auf den Rand zu stellen, ihn um die eigene Achse kreiseln zu lassen, zuzusehen, wie die Kreiselbewegung ins Schlingern kam, Frequenz und Geräusch sich steigerten, bis das Ding platt auf dem Boden lag. Sie fragte sich nur, wie Carla darauf gestoßen war: Sie selbst hatte ihr den Trick nie gezeigt. Er gehörte zur Vergangenheit, zu den Liebesnächten mit Anton, zum Aufstieg in den Spitzenkader des DDR-Sports, zum Absturz ins Leben als Geschiedener mit Kind. Sie hatte nie mehr versucht, ihre besondere Gabe beim Umgang mit rotierenden Scheiben wiederzufinden. Im Augenblick, da die Rotation von Carlas Untertasse auf dem Küchentisch erstarb, fiel ihr ein, dass gerade zehn Jahre seit jener Nacht im Studentenheim vergangen waren, in der sie über sich hinausgewachsen, in deren Folge sie vom Physiker Fürbringer erobert worden war. Hatte Anton der Tochter irgendwann gezeigt, was sie mit Tellern, Münzen, jeder Art Scheiben anstellen konnte?

„Hast du das im Hort gelernt?“

„Nö, das konnte ich schon immer.“

Liebe auf den ersten Ton

Matthias Montag, Offizier im besonderen Einsatz beim Fernsehen der DDR, hat sich einer eigenen Form der Nachwuchsförderung verschrieben und braucht, um den jungen Damen zu imponieren, eine Lebensgefährtin zum Herzeigen. Der Zufall kommt ihm zu Hilfe – in der Gestalt von “Frau Elster”

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Im Casino des Fernsehens erregte sich eine prominente Schauspielerin darüber, dass „die strohdämliche Frau Elster“ nicht nur mit einer Gesangsausbildung im Fach Chanson an der Musikhochschule, sondern auch mit einem nigelnagelneuen Auto bedacht worden sei, obwohl sie weder stimmliche Begabung noch die von Autokäufern im Sozialismus zu absolvierenden Wartejahre habe vorweisen können. Matthias wurde hellhörig. Dass „Frau Elster“ der Spitzname einer Eiskunstläuferin war, wusste er: Sie hatte in den sechziger Jahren etliche Medaillen gewonnen, nach einer unglücklichen Affäre mit einem Kanadier Federn lassen müssen, sich einem Kollegen ver- und entlobt, schließlich den Sohn eines Lederwarenhändlers aus Lauterberg geheiratet. Die Ehe war ebenso verunglückt wie alle sängerischen und schauspielerischen Versuche dieser Katja Günzler – der Spitzname verriet es. Matthias Montag stellte sich vor, wie die einstmals Umjubelte sich fühlen musste, während kübelweise Häme sich über sie ergoss. Der Frau könnte geholfen werden, dachte er sich, denn ihre Rachegefühle waren zu befriedigen, das Bedürfnis nach Trost, die Sucht nach Bewunderung zu stillen. Er rief sie an.

„Hallo“, tönte es aus dem Hörer, „wer ist da bitte?“

„Guten Tag, gnädige Frau“, Mathias schluckte am eigenen Schleim, „verzeihen Sie bitte den Überfall, aber meine Genossen vom Fernsehen haben mich ein wenig … nun, wie soll ich sagen … verärgert durch ihren Mangel an Sensibilität im Umgang mit Ihnen. Montag mein Name, Matthias Montag. Ich bin ein Fan, ein langjähriger Verehrer, wenn ich so sagen darf, und es schmerzt mich zu sehen, wie Sie von neidischen, missgünstigen Leuten verfolgt werden. Glücklicherweise kann ich dem aufgrund meiner Position in Adlershof entgegentreten.“

„Da sinn Se Gott sei Dank ni dor Eenzsche!“, kam es zurück, „un was wolln Se jetze von mir?“

„Ich bin zu einem Empfang beim Genossen Minister eingeladen, es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mich begleiteten.“ Das war eine glatte Lüge, aber sie machte Eindruck.

„Isch kenn Sie doch gor ni. Minister. Welscher denn? Kultur oder …?“

„Maschinenbau“, Matthias beglückwünschte sich zu der Eingebung. „Ministerium für Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau. Wir vom Fernsehen haben ja einen großen eigenen Fuhrpark und deshalb besondere Beziehungen zum Ministerium, Sie verstehen. Verzeihen Sie – es ist gewissermaßen ein Traum für mich, bei einer solchen Gelegenheit in Ihrer Begleitung … und es wäre ja für Sie auch durchaus interessant, wenn ein offizieller Vertreter des Fernsehens mit Ihnen aufträte, nicht wahr. Der Genosse Intendant sieht das übrigens ebenso.“ Mit der Kühnheit des letzten Satzes schwang sich Matthias Montag auf eine Höhe, für die er sich selbst bewunderte. Es konnte ihm das Genick brechen, falls Frau Elster je mit Heinz Adameck darüber sprach. In der Leitung blieb es still, der Moment dehnte sich unerträglich, Furcht kroch ihm in die Kehle – was, wenn sie auflegte?

„Nu, da solltn mr uns obr vorhär schon emol beschnubbrn, odr?“

„Das hatte ich kaum zu hoffen gewagt – nun, da Sie es vorschlagen: je eher, je lieber! Wann passt es Ihnen denn?“

„Donnerstag um Fünfe im Café vom Ballasthotel. Woran erkenn ich Sie?“

„Ich bin ganz sicher vor Ihnen da, liebe Frau Günzler und komme auf Sie zu – vielen, vielen Dank, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich freue!“