Startup in Freiheit und Absturz der Lügner (2)

Stasi und KSZE

Der politische Kontext zum „Raketenschirm“

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1972 befreundete ich mich als Physikstudent an der Humboldt-Universität mit einem Journalisten aus Westberlin. Dank der Ostverträge und Verhandlungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik durfte er – wie viele andere Besucher aus dem Westen – in die “Hauptstadt der DDR” einreisen, gegen Zahlung von Gebühren und Zwangsumtausch harter D-Mark in die Währung des “Arbeiter-und-Bauernstaates”. Im Freundes- und Bekanntenkreis mehrten sich solche Kontakte. Willy Brandt, Walter Scheel, Egon Bahr, Helmut Schmidt, Hans Dietrich Genscher hatten viele Sympathien, weil sie etwa den Verkehrs-, den Grundlagenvertrag sowie Fortschritte vor allem beim “Korb drei” des KSZE-Prozesses zustande brachten. Das bedeutete mehr Reisen, erleichterten Telefonverkehr, mehr Austausch von Meinungen und Waren. Dass Konservative in Bonn gegen eine solche “Politik der kleinen Schritte” opponierten, am damals illusorisch scheinenden Ziel deutschen Einheit festhielten, verstanden wenige von uns. Westbesucher entdeckten sogar den “spröden Charme der DDR”, auch wenn sie keine in der Wolle gefärbten “Linken” waren.

Im 3. Kapitel von “Staatssicherheit und KSZE-Prozess” werden die Grundkonflikte jener Jahre zwischen Ost und West, aber auch Divergenzen etwa zwischen Helmut Schmidt und Jimmy Carter beschrieben. Vor allem ist erkennbar, dass Sicherheitsinteressen für die UdSSR der Ära Breshnew absoluten Vorrang hatten. Die “Breshnew-Doktrin” schloss jede noch so friedliche politische Änderung innerhalb der Länder des “Warschauer Paktes” aus, beschränkte rigide deren Souveränität. In der KSZE-Schlussakte von 1975 weist vor allem Abschnitt 1 Punkt 6 darauf hin. Jegliche Opposition im Innern war leichter zu ersticken, wenn vertraglich als “Einmischung in innere Angelegenheiten” ausgeschlossen war, sie aus dem Ausland zu unterstützen. “Nichteinmischung” ist bis heute eine Standardforderung von Diktaturen. Demokratien, die von politischen Veränderungen leben, müssen Versuche der “Einmischung” ausbalancieren – ebenso wie die widerstreitenden Interessen im Inneren. Breshnew, Chef der KPdSU, und die Führer der “Bruderparteien” waren aber vollkommen darauf fixiert, was die marxistisch-leninistische Doktrin vorsah: den weltweiten Sieg des Sozialismus-Kommunismus, und das bedeutete fortwährenden Kampf um die Deutungshoheit, besonders was die in Punkt 6 vereinbarte “Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit” betraf.

Obwohl die Schlussakte  kein völkerrechtlich bindender Vertrag, sondern nur eine Selbstverpflichtung der Staaten war, musste sich deren Handeln daran messen lassen, ob und inwieweit sie ihr nachkamen. Auf dem Schlachtfeld der Ideen und Deutungen verschärfte sich, was in der Sprache der SED “ideologischer Klassenkampf” hieß. Da sich Informationen via Radio und Fernsehen kaum mehr von Mauern und Grenzzäunen aufhalten ließen, mussten in der DDR also Maßnahmen gegen “Einmischung” und “ideologische Diversion” ergriffen werden, denn die Helsinki-Aktivitäten stärkten auch Aktivitäten von Dissidenten, die Rechte und Freiheiten aus der Schlussakte einforderten. In der DDR gab es keine Gruppen wie etwa in Polen und der CSSR mit der berühmten „Charta 77“. Hier wurden Ausreisewillige zum Problem, die sich ab 1975 auf Helsinki beriefen. Davon handelt Kapitel 4 des Buches.

Das besondere Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten führte andauernd zu Konflikten um die Frage der Staatsbürgerschaft: Die SED wollte eine volle völkerrechtliche Anerkennung durch möglichst viele Länder erreichen, inklusive Botschafteraustausch und besonderer Staatsbürgerschaft der DDR, während die Bundesregierung mittels besonderer Klauseln die Chance auf eine Wiedervereinigung zu erhalten suchte und jedem DDR-Bürger zugestand, die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft zu beanspruchen, wenn er die DDR verließ. Zwischen DDR und Bundesrepublik gab es deshalb keinen Botschafteraustausch, sondern ab 1974 nur „Ständige Vertretungen“ in Bonn bzw. Ostberlin. Letztere war auch für die – nach Helsinki – mögliche Betreuung westdeutscher Journalisten in der DDR zuständig. In solchen Zugeständnissen an den stärkeren Austausch von Menschen und Meinungen sah die SED-Führung ebenso wie die KPdSU eine wachsende Gefahr. Erich Mielkes Organisation wurde personell und technisch massiv aufgerüstet.

immo72Beim Physikstudenten im Prenzlauer Berg läuteten zwei Herren in gleichen Mänteln an der Tür, sie stellten sich als Vertreter eines Wirtschaftsverlages vor. Er bat sie herein, servierte vom Westberliner Freund mitgebrachten Earl Grey und harrte mit weichen Knien und flauer Magengrube der Dinge, die kommen sollten. Einer der beiden, etwa 40, trug eine Hornbrille, hatte sein schütteres, ergrauendes Blond nach hinten gekämmt und erklärte mir, dass ich ihnen als besonders begabter, interessierter Student bekannt sei, fragte, wie um meine Fortschritte stünde. Das verschaffte mir Luft, ich konnte allerlei daher schwätzen und mich freuen, dass ihnen der Tee offenbar nicht besonders schmeckte. Freilich kamen sie alsbald auf meinen Freund zu sprechen, mit dem sie gern ins Gespräch kämen, denn der sei ja Journalist, und sie seien gerade mit einem Bericht über wirtschaftliche Zusammenhänge des Pressewesens in Westberlin befasst. Sie wüssten es sehr zu schätzen, wenn ich den Kontakt herstellte. Ob ich vielleicht die Telefonnummer…?

Es gelang mir, sie zu mit dem Versprechen zu vertrösten, mich alsbald bei der von ihnen genannten Rufnummer zu melden, ich wolle nur zuvor das Einverständnis meines Freundes einholen. Dann tat ich zweierlei: Ich redete mit dem Westberliner und erzählte die Geschichte brühwarm beim nächsten Stammtisch in den “Offenbach Stuben”, einem beliebten Szenelokal. Weshalb ich das erwähne? Weil jeder, sofern nicht als Kind mit dem Klammerbeutel gepudert, auf derlei Besuche gefasst war. Ganz sicher, wenn er Westkontakte hatte. Er war ebenso darauf gefasst, dass am Stammtisch höchst wahrscheinlich mindestens ein Zuträger der Stasi saß. Wenn er Pech hatte, kamen die Mäntel dann nicht mehr zu Besuch, sie bestellten ihn ein. Ich hatte Glück, sie hielten nur weiterhin mein Tun und Lassen in meiner Akte fest, markiert mit “potentieller Unterstützer des Feindes” und “feindlich-negatives Element”. An eine Ausreise dachte ich zu jener Zeit längst noch nicht.

Was die großartige Arbeit von Douglas Selvage und Walter Süß nämlich nicht beschreiben kann – vielleicht weil solche Prozesse ihrem wissenschaftlichen Vorgehen nicht entsprechen – sind Gedanken, Strebungen, Handlungsimpulse, die bis heute noch dem raffiniertesten Geheimdienst entgehen. Sie können ansteckend sein. So ging es mir, vielen meiner Freunde und Kollegen – und in der Folge immer mehr DDR-Bürgern – mit dem „Ausreise-Fieber“. Spätestens im November 1976 wurde es epidemisch und war von noch so dramatischen Quarantänemaßnahmen der Stasi nur mehr vorübergehend einzudämmen. Was die Infektion stark begünstigte, weshalb die SED unfähig war, sie zu kurieren, mag (noch) keiner wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich sein. Wir haben sie alle überstanden, die Arznei hieß Freiheit. Die DDR überlebte beides nicht.

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Startup in Freiheit und Absturz der Lügner (1)

DDR_EntlassungAm 16. März waren es genau 30 Jahre, dass ich der Fürsorge von SED und Stasi, von Erich & Erich entkam: Ich schleppte zwei Koffer und einen Rucksack durch die Katakomben des Grenzübergangs am Berliner Bahnhof Friedrichstraße und bestieg einen Schnellzug quer durch Mauern und Stacheldraht. Mein wichtigster Besitz: die Urkunde über die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Ich nahm die notwendigsten Habseligkeiten für die Reise zu meinem unbekannten Vater mit. Er hatte mitgeholfen, dass ich in die Freiheit entlassen wurde. “Familienzusammenführung“ hieß das offiziell, der Sohn war fast 39 Jahre alt, die Bundesrepublik zahlte der DDR dafür fast 100 Tausend D-Mark. Hinter mir lagen Jahre des Berufsverbots, mein neues Leben im Westen würde ich als Mr. Nobody beginnen, als einer von zahllosen Flüchtlingen.

“Wenn Sie in einem halben Jahr als Arbeitsloser am Hamburger Hafen sitzen”, gab mir ein betreuender Stasi mit auf den Weg, “werden Sie sich in die DDR zurücksehnen.” Tatsächlich saß ich dort schon einige Wochen später, “arbeitslos”, von Sehnsucht keine Spur, stattdessen mit der Erfahrung, dass manche bundesdeutschen Bürokraten meine Erinnerung an ihre Kollegen im Osten noch lange wach halten würden. Tief eingeprägt hat sich mir ein Behördenangestellter mit dem passenden Namen Gottesknecht. Er teilte das Urteil des Ostberliner Betreuers, meine Chancen betreffend, vollkommen. Im nachhinein war ich beiden dankbar: Sie hielten meinen Willen zur Freiheit und zum Widerstand gegen kollektivistische Weisheit wach. So durfte ich arbeiten, so entstanden meine Bücher.

Stasi und KSZEUnd nun kam mir in diesen Tagen – wie gerufen – aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ein wissenschaftliches Werk ins Haus, gewichtig im doppelten Sinn. Es erhellt umfassend politische Hintergründe jener 20 Jahre, als die Mauer brüchig wurde, das Tor in die Freiheit sich endlich einen Spalt breit öffnete, Menschenströme es aufdrückten und die zunächst Zurückgebliebenen Mut fassten, Erich & Erich samt Politbürokraten nebst einem Heer von gefügigen Journalisten und “Kulturschaffenden” den roten Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Im Vergleich zu den 40 Jahren der Existenz des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ war das wirklich so etwas wie ein historischer Ruck, dem der Sturz folgte. Aber er kam nicht von ungefähr.

Douglas Selvage und Walter Süß haben für die Abteilung Bildung und Forschung des BStU eine gewaltige Menge Quellen studiert und auf 761 Seiten ein Kompendium des Geschehens hinter den Kulissen der KSZE-Verhandlungen zwischen 1972 und 1989 geschaffen, das mich einsog wie der beste Thriller. Es beschäftigt mich immer noch, es wird eine Weile brauchen, bis alles genauer gelesen, verdaut und sortiert ist. Gleichwohl empfehle ich heute schon allen, die sich nicht nur von Berufs wegen für Vergangenheit und Zukunft unseres Landes, des Kontinents und der Beziehungen zu den Weltmächten USA und China interessieren, die Lektüre.

Dichter und aufregender kann einer sich seiner Erfahrungen nicht vergewissern, als beim Studieren der Korrelationen von selbst erlebten Konflikten, Hoffnungen, Niederlagen, Wendungen und denen der handelnden, ver-handelnden Personen in den damaligen politischen Lagern. Das beste: Er kann begreifen, weshalb die Selbstgewissen, vom Dogma Geblendeten, im Glauben an die eigene höhere Berufung scheitern, weil sie scheinbar Banales übersehen. All ihre taktischen und strategischen Machtroutinen erweisen sich als insuffizient gegenüber der Realität. Und das betrifft nicht nur den untergegangenen Sozialismus. Darum ist dieses Buch mehr wert als eine Rezension, es verdient jede Aufmerksamkeit. Ich werde mich bemühen, es in mehreren Artikeln vorzustellen.

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