Klebstoff der Dikaturen

“In Zeiten des Verrats sind die Landschaften schön”, hat Heiner Müller gesagt. Berge, Seen, Wälder, Flüsse: die Romantik des Naturschönen war in allen deutschen Diktaturen Fluchtpunkt der Verängstigten und amtlicher Tranquilizer zugleich. Die Landschaften sind heute anders bedroht als zu DäDäÄrr-Zeiten. Aber der alte, giftige Klebstoff der Diktaturen funktioniert immer noch: die zwei Komponenten Angst und Gewohnheit sind offenbar nur durch Katastrophen aufzulösen. Ein Gespräch zweier Frauen am Liepnitzsee, einer Idylle nahe bei Erich & Erichs Residenz Wandlitz in den 80er Jahren, offenbart die Brüchigkeit eines Lebens, das “riskantes” Vertrauen durch Kontrolle ersetzen will.

Liepnitz„Was machen wir jetzt?“ Antje und Gabi saßen am Ufer des Liepnitzsees, die Kinder ließen Steinchen springen, peitschten Brillanten in die Sonne des Altweibersommers, spürten Krebse auf, schnorchelten. „Sie sind vollkommen unbeschwert“, sagte Antje, „Karsten gehört ihnen ja auch irgendwie, nicht nur uns. Die Jungs raufen, spielen Fußball mit ihm, Carla schwärmt vom Fernsehstar – ‚der Freund von Gojko Mitic‘! Mir wär’s egal, dass du mit ihm schläfst, mir ist nur nicht so ganz egal, dass es nebenan passiert.“

„Und dass er bei der Stasi unterschrieben hat, ist dir das auch egal?“

„Dir nicht?“

Gabi schwieg. Ein Spitzel, von dem alle wussten, war auf den ersten Blick nicht viel wert für einen Geheimdienst, nicht als Informant jedenfalls. Alle würden sich in seiner Anwesenheit zurückhalten mit gefährlichen Äußerungen, ihn abschneiden von Vertraulichkeit. Sie konnten aber auch niemals Vertrauliches besprechen, gar vereinbaren: Solange er da war, war die Macht da, die Drohung. Wie konnte er selbst mit dieser Aura leben? Alles was er sprach, was er tat, stand unter Vorbehalt, jeder Raum füllte sich mit Misstrauen, sobald er ihn betrat, denn er würde nie beweisen können, dass mit seiner Enttarnung die Verbindung zur Stasi beendet war. Gabi stellte sich vor, sie selbst brächte eine Runde zum Verstummen, indem sie nur erschiene. Sie würde grinsen, Hallo sagen und „Alles okay?“, und dann redeten alle von Belanglosem. Eine Aura wie von billigem Parfüm umgäbe sie. Angenommen es gäbe einen zweiten Spitzel – wäre er dann der einzige, der ihr unverkrampft begegnete? Oder müsste er, damit seine Tarnung intakt bliebe, die Enttarnte mit besonderer Verachtung strafen? Wäre also schärfstes Misstrauen, besonderer Vorbehalt angebracht gegenüber den Vorsichtigen und Standfesten?

In diesem Augenblick begriff Gabriele Fürbringer, dass die Stasi mit ihrem Spitzelwesen jegliches Vertrauen zerstörte. Sie fragte sich, was dann übrig blieb: „Was bliebe übrig, wenn wir einfach alle eine Verpflichtungserklärung unterschrieben? Wären wir alle brav oder säßen wir alle im Knast?“

„Wir sitzen doch alle im Knast“, grinste Antje, „die Stasis womöglich noch mehr als wir. Glaubst du, dass die sich nicht gegenseitig fortwährend belauern? ‚Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser‘, Lenin, schon vergessen? Da drüben bei den Dauercampern auf der Insel sind sie unter sich, wetten? Nicht zu reden vom eingezäunten Bonzenbad oder der Siedlung nebenan in Wandlitz. Vielleicht erzählen sie sich dort beim Grillen die schärfsten politischen Witze – vielleicht aber auch nicht.“

„Dann wäre Mielke der Einzige, der überhaupt noch irgendwem vertrauen könnte, weil er alles und alle kontrolliert“, meinte Gabi, „er dürfte über Witze als einziger unbeschwert lachen.“ Antje freute sich: „Wenn es so perfekt funktionierte, klar. Er wäre Gott, vorausgesetzt alle Informationen wären wahr, kämen bei ihm an und er könnte sie verwerten. Aber das Ganze ist ein undurchschaubares Gestrüpp von Lügen, Halbwahrheiten, erschlichenen oder erpressten Wahrheiten. Nicht mal Honecker kann sich sicher fühlen, er hat Ulbricht gestürzt, er traut keinem, denn er kennt die Tricks. Wenn wir alle unterschrieben, uns fortwährend gegenseitig zu denunzieren, wäre das Chaos nur ein kleines bisschen schlimmer. Vermutlich lebten wir nicht viel anders als wir ’s sowieso tun, weil der Alltag hauptsächlich aus Routinen besteht, die den Oberstasis egal sind. Mit der Liebe würde es schwierig, das kannst du in ‚1984‘ von George Orwell nachlesen. Liebe ohne Vertrauen? Beides wäre einfach totkontrolliert.“

Gabi nickte. „Du hast mir vertraut, ich hab ’s verdorben.“ Antje nahm sie in den Arm. „Nein, um Gottes willen. Nicht wegen dem Typ. Den kannst du geschenkt haben, mach mit ihm, was du willst. Du solltest ihn nur von uns – dir, mir, den Kindern, den Freunden fernhalten. Keine Ahnung wie du ’s anstellst, ich hoffe, dass der Anfall von Verliebtheit vorübergeht. Bei mir hat er nicht lange gedauert, meine Freundschaft zu dir verträgt mehr.“

„Er hat versprochen, dass er den Stasioffizier hängen lässt, ihn mit Banalitäten abspeist, niemals etwas zu unserem Nachteil ausplaudern wird.“ Gabi seufzte, schmiegte sich in Antjes Umarmung. Der See lächelte. „Na also“, hörte Gabi Antje sagen, „dann kannst du entscheiden, ob du ihm vertrauen willst. Kontrollieren kannst du ihn ja nicht.“

Goethes Gretchen und Horbels Stasikind

GoetheGeorgOswaldMay1779

Goethe 1779 als junger Jurist in Diensten des Weimarischen Herzogs. Vier Jahre zuvor hatte er den “Urfaust” geschrieben – darin die Tragödie von Gretchen. Sie hatte ein historisches Vorbild

Susanna Margaretha Brandt, Waise eines Soldaten, Dienstmagd in Frankfurt, verliebte sich – einmal in ihrem aussichts- und trostlosen Leben – in einen, der viel versprach: in einen Goldschmiedegesellen aus Holland, einen der herumkam, nicht aus dem heimischen Stallmief stammte. Er war gleich wieder weg, sie war schwanger. Niemand konnte sie schützen, ihr helfen, das Kind kam am 1. August 1771 als Sturzgeburt in der Waschküche zur Welt, sie tötete es, floh ins noch Aussichtslosere, schaffte es nicht weiter als bis Mainz, kehrte nach Tagen aussichtslos zurück, wurde eingesperrt, verurteilt, auf dem Blutstuhl enthauptet: „Der Nachrichter führte die Maleficantin mit der Hand nach dem Stuhl, setzte sie darauf nieder, band sie in zweyen Ort am Stuhl fest, entblösete den Hals und Kopf, und unter beständigem zurufen der Herren Geistlichen wurde ihr durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt.“

Dem jungen Goethe mit all seinen Liebeleien, dem sorglosen Galan, frischgebackenen Rechtsanwalt ging die Sache derart unter die Haut, dass er sie mit sich fortschleppte; Abschriften der Prozessakten fanden sich noch in seinem Nachlass. Freilich hinderte ihn das nicht, 1783 als Herzoglich-Weimarischer Minister das Todesurteil gegen eine andere Kindsmörderin gutzuheißen.

Horbel fragte sich, wie feige er selbst sich vor sechs Jahren aus dem Leben von Silvia, dem Stasikind, verabschiedet, wie sorglos er sie ihrem Schicksal überlassen hatte. Was wäre geschehen, wenn er sie damals geschwängert hätte? Hätte er sie zur Abtreibung genötigt wie sein Freund Matthias Montag die minderjährige Doris? Hätte er wie jener sie lebensgefährlich verletzt beim Versuch, selbst den Abort herbeizuführen?

Solche Fragen stellten sich eigentlich so wenig wie die nach dem Kranzgeld, denn Abtreibungen waren in der DDR seit Anfang der 70er Jahre während der ersten drei Schwangerschaftsmonate legal; in den Kliniken wurden unerwünschte Embryos am Fließband entsorgt. Auch das Stasikind hätte sich des Problems entledigen können, falls die Eltern gehörigen Druck aufbauten. War das der Grund, weshalb sie sich nie bei ihm gemeldet hatte?

Er musste sich nicht grämen wegen einer jungen Frau, die vermutlich längst verheiratet war, Kinder aufzog, keinen Gedanken mehr an ihn verschwendete. Aber aus dem Traum einer Liebe, unerfüllt, unaufgelöst, wucherten Phantome von abgeschnittenen Gefühlen, amputierten Leidenschaften, die sich im „Urfaust“ wiederfanden – und Horbel hätte gern etwas von der weiblichen Sicht auf solche Tragödien erfahren. Das hätte ihn von manchen Ängsten und Nöten erlöst.

Stattdessen schickte ihm die Hochschule für Schauspielkunst eine Studentin, der er noch weniger gewachsen war als dem ganzen Urfaust.