Im Herbst kommt die Fortsetzung – deshalb erlaube ich mir, noch einmal auf den Roman “Blick vom Turm” hinzuweisen, der 2008 im Salier Verlag Leipzig erschienen ist.
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Der Roman kam nicht von Ungefähr zwanzig Jahre nach der Endzeit der DDR, im selben Jahr wie Tellkamps “Turm” – er spielt in Tellkamps Geburtsjahr 1968 und sein Held Gustav Horbel ist – wie Tellkamps Hauptfigur – ein Abiturient. Es sind Generationenabstände. Die Familiengeschichten allerdings reichen sehr viel weiter zurück: bis in die 30er Jahre des 19.Jahrhunderts in einer Kleinstadt in Thüringen.
Auf den ersten Blick ist das ein Ort, für den sich niemand interessieren muss – tiefste Provinz. Gustav Horbel aber erlebt, wie diese kleine Welt mit der Kulturrevolution in China zusammenhängt, mit der ersten Liebe seiner Ur-Urgroßmutter und dem Untergang der Selbständigen in der DDR. Aus Gustavs Heimat kommen nicht nur entscheidende Ideen für eine Waffe, die bis heute mehr Menschen umgebracht hat, als alle Atombomben – die “Kalaschnikow”-, sondern dort wachsen 1968 Filmstars heran, Wissenschaftler, Weltreisende, aber auch kleine Leute, die zwanzig Jahre danach über sich selbst hinauswachsen, die ein vermeintlich unerschütterliches, perfekt gesichertes politisches System zum Einsturz bringen werden.
Der Turm, von dem das Buch erzählt, ist nur noch Ruine. Die Ideen, Erlebnisse, Erfahrungen der Menschen um ihn herum – sie leuchten.
Im Herbst 2010 wird bei Salier “Babels Berg” verlegt; der Roman schließt mit dem Jahr 1969 an.
Alles ist möglich: Menschen landen auf dem Mond, zwischen West- und Ostberlin kann man wieder telefonieren, ein Diskus fliegt kilometerweit, ein Deutscher bekommt den Friedensnobelpreis, in Gustavs Thüringer Heimatstadt gibt es das europaweit beste Japan-Restaurant: Anfang der 70er Jahre sprechen viele Zeichen für Aufbruch, Fortschritt – und unbegrenztes Vergnügen bei erotischen Abenteuern jenseits der Familienplanung.
Gustav Horbel ist in der Hauptstadt Berlin gelandet, um Physik zu studieren, denn er ist sehr neugierig darauf, was die Welt im Innersten zusammenhält. In Berlins Straßen, in Bars und Theatern, im Thüringer Wald und in den Reichsbahnzügen dazwischen lernt er dann viel mehr darüber als in Labors und Hörsälen. Während er mit Prüfungen an der Universität wenig Scherereien hat, macht er in den Prüfungen des Lebens keine besonders gute Figur, er will einfach zu hoch hinaus. Ob das am Geist dieser 70er Jahre liegt, in denen alles möglich scheint?
Zwischen Traum, Wahn und Wirklichkeit stolpert Gustav durch eine bewegte Zeit. Gott sei Dank nimmt ihn immer wieder jemand bei der Hand, manchmal ein berühmter Mann, manchmal die schönste Frau der Welt.
Das hört sich sehr gut an. Womit meine Herbstlektüre feststeht. Für ehemalige Westmenschen eine Pflichtlektüre. Wie schon der Turm. Das (Alltags-)Leben in der DDR bekommt endlich Gesicht und Seele – im Turm merkt man schon: Unterschiedlich waren „nur“ die Systeme. Und: wir wären nie auf die Idee gekommen „No milk today“ in ein systemkritisches Deutsch übersetzen zu müssen. Wir haben statt dessen Ho-Ho-Ho-chi-Minh! gebrüllt. Und eigentlich keine Ahnung gehabt.
Wer hat mit 18 schon „Ahnung“? Mir fällt immer mal wieder der Spruch ein „Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer mit 30 immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand“. Nächstens gibt’s eine passende Buchempfehlung: Gerd Koenen „Was war der Kommunismus?“. Der Mann hat auch eine Geschichte …
Sehr guter Spruch! Aber dann kannte ich damals sehr viele Typen ohne Verstand. Es war ja auch nicht gerade einfach für uns linksbewegte Westmenschen. Das Proletariat wollte uns nach drüben oder ins Arbeitslager schicken, es herrschte ein Überangebot an kommunistischen Plattformen, nämlich die KPD/ML, die KPD/AO, den KBW, die ostfinanzierte DKP, es gab die Tupamaros Westberlin, die umherschweifenden Haschrebellen, die rote Hilfe, die schwarze Hilfe und für den ganz Extremen die Stalinisten, linientreuer noch als die Maoisten, dann konnte man auch noch die Studentenführer anhimmeln, Dutschke, Cohn-Bendit, die Gebrüder Wolf usw., nicht zu vergessen die Kommune 1 mit Langhans & Co, für 18jährige schwierig bis unmöglich, da durchzublicken, für 25 bis 30jährige aber auch, und plötzlich, spätestens ab 1990 waren alle weg, war überhaupt alles weg. Bis auf „Sepp“, den letzten noch aufrechten Kommunisten, dessen Gott immer noch Enver Hodxa heißt, und der, Rentner inzwischen, auf dem Land lebt, seinen Acker bestellt, „Das Kapital“ endlich begriffen hat und verkündet, es sei alles gekommen, wie vom „Karle“ vorhergesehen, die Verelendung des Proletariats und die Vorstufe zur Revolution. Und mit geballter linker Faust wird der dereinst in die Grube fahren …
Marx war in Vielem weitsichtig – insofern hat sich die (Zwangs-)Lektüre gelohnt; das tat sie vor allem auch deshalb, weil sie einen kräftigen Diskurs unter all denjenigen unterhielt, die mit der sozialistischen Wirklichkeit konfligierten – es waren nicht die Dümmsten. Daher der Hinweis auf Koenen. Ich habe 2007 für den SWR mal ein Hörstück gemacht „Ist die Welt nicht mehr zu retten? – Der Fall Rudolf Bahro“, zu hören unter
http://tinyurl.com/y4n8hbn. Das könnte Sie vielleicht interessieren.