Zufall und seltsames Zusammentreffen: Ein Handlungsstrang des Romans spielt in einem Internat in Thüringen, es gibt ein reales Vorbild, Wickersdorf mit langer reformpädagogischer Vorgeschichte. Meine Informationen zum Hintergrund verdanke ich persönlichen Kontakten, sie sind unbezweifelbar: In Wickersdorf (nicht nur dort) wurden während der DDR-Jahre Halbwüchsige als Stasi-IM angeworben, minderjährige Mädchen von ihren Führungsoffizieren sexuell missbraucht. In meinem Roman geschieht dies zwischen 1974 und 76 einer Schülerin namens Kerstin.
Gestern zeigte die ARD eine Dokumentation über eine Frau namens Kerstin – sie wurde in den 80er Jahren in Wickersdorf angeworben. Sexuelle Übergriffe blieben ihr anscheinend erspart. Nachdem sie die Schule verlassen, ihr Studium in Jena begonnen hatte, konnte sie sich der Stasi-Verstrickung entziehen. Der Kerstin im “Raketenschirm” gelingt das nicht – es hat für sie furchtbare Folgen.
Welche seelischen Zerstörungen Jugendliche erlitten, wenn sie von den “Tschekisten” beobachtet, unter Druck gesetzt, als Spitzel ausgenutzt wurden, schilderte der ARD-Film auch anhand eines anderen Schülers aus Dresden; sein Leben ist infolge der “Zersetzungsmaßnahmen” aus dem Jahre 1988 bis heute versehrt. 1990 habe ich in einem Hörspiel für den RIAS die Geschichte einer Abiturklasse erzählt, in der jugendliche Liebe, jugendliches Vertrauen, am Ende ein Menschenleben am Alltag des Mauerstaats zugrunde gehen.
So lange Mitläufer und stillschweigend Mitwirkende wie der seinerzeitige Direktor des Internats Wickersdorf das Geschehene als Normalität beschönigen, so lange das SED-Regime, seine ideologischen Fundamente und seine Herrschaftsmethoden verharmlost, gar für gesellschaftspolitische Neuorientierungen nach links herangezogen werden, muss jeder einzelne Fall, jedes einzelne Schicksal uns mahnen: Die Menschenverachtung dieses “real existierenden Sozialismus” zerstörte nicht nur in Folterkellern und Gefängnissen Vertrauen, Moral, Gesundheit. Das soll niemals vergessen werden.
Die Dokumentation in der ARD gestern knüpfte an die Tugenden journalistischen Engagements für die Demokratie an – sie entsprach dem Auftrag des Grundgesetzes. Es gilt seit 21 Jahren in ganz Deutschland, im Alltag aber wird es von allzu vielen missachtet: Sie ziehen organisiertes Mitläufertum den Mühen persönlichen Einsatzes für die Freiheit anderer vor. Und deshalb ist es kein Zufall, dass sich unter Deutschlands Internaten in Ost und West Schreckensorte finden, wo junge Menschen fürs Leben Schaden nehmen.